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Die Zeit geht durch die Räume

- Erster Teil -


Ich war damals so fasziniert, dass ich eine Geschichte schrieb:
Ich stehe vor einem Bild in einer Ausstellung und schaue. Fasziniert stehe ich da. Das Bild zieht mich in sich hinein. Es geht ein Sog aus von der dargestellten Raumflucht, den toten Winkeln, dem nur als schmaler, senkrechter Spalt sichtbaren Fenster. Eine wie unter herabgelassenen Lidern wahrgenommene Innenwelt. Gedämpfte Farben, Schwarz, Grau, Oliv, Weiß und ein wenig Braun. Fluchtlinien in eine geheime Welt.
Ich gebe der Verlockung der offen stehenden weißen Türen nach. Leise und vorsichtig um mich schauend trete ich ein. So sehr ich mich auch bemühe behutsam aufzutreten – die alten gewachsten Dielen knarren. Ich sollte vielleicht die Schuhe ausziehen, wie man sie beim Betreten eines heiligen Raumes auszieht? Dringe ich nicht ungefragt in eine Intimsphäre ein? Und ist ein solcher Bereich nicht tabu? Ich folge dem Licht, das vor mir her durch die Räume wandert.
Die Fenster sind lange nicht geöffnet worden. Im ersten Zimmer steht zwischen ihnen ein kümmerlicher Gummibaum. Auf das glänzende Grün seiner Blätter hat sich das Grau der Zeit gelegt. Staub tanzt in den Sonnenstrahlen. Sekunden später schiebt sich eine Wolke vor die Sonne, zieht vorbei. Für einen Augenblick blitzte es im verschatteten Spiegel auf, und im nächsten Moment hat sich alles Leben zurückgezogen, hängt der Spiegel fast blind an der Wand. Ich starre wie hypnotisiert auf das fleckige Glas.
Eine alterslos wirkende Frau blickt vage und gedankenverloren vor sich hin. Sie sitzt auf einem Stuhl. Sie sitzt für ihren Mann Modell. Der Ehering glänzt an ihrer Hand. Ihre Hände sind es nicht gewohnt elegant im Schoß zu ruhen. Über dem dunklen Kleid trägt sie ein kleines olivenfarbenes Jäckchen, an Hals und Ärmeln dunkel gepaspelt und mit vielen Knöpfen versehen. Das Jäckchen steht offen. Die Konturen weisen auf das blasse Gesicht. Der kleine schwarze Hut mit der kessen flaumigen Feder passt so wenig zu ihr, wie sie in die Welt dieses Malers zu passen scheint.
Er schaut sie an, schaut durch sie hindurch. Was sieht er? Das Leben, das ihn seit langem flieht? Er folgt den Linien, das Leben lockt ihn, aber er kann es nicht fassen. Sie, die Schwester seines Freundes, kommt von einem Gut in der Nähe der Hauptstadt. Vor einigen Jahren verbrachte der Maler den Sommer mit dem Freund und begegnete der Schwester. Er sah sie durch den Garten gehen, die Blumen für die abendliche Tafel auswählen, sah sie in den Stachel- und Johannisbeerbüschen, sah sie Obst in einer Schale arrangieren und verliebte sich in sie. Für ihn war sie die Verkörperung des Lebens, aber da er sie durch seine Wahrnehmung sah, sah er sie als Teil eines Stilllebens, einer Nature Morte.

Er war fasziniert vom Leben und fürchtete es. Er brachte sie in die Stadt, in die Steinwüste. Sie war kein Huflattich, der den Asphalt durchdringt. Sie war die Tochter eines Gutsbesitzers und hatte immer auf dem Lande gelebt. Sie brauchte das Land, brauchte die wechselnden Jahreszeiten, die Sonne, den Regen, den Wind und die wandernden Wolkenschatten über den Feldern. In der Stadt kümmerte sie vor sich hin wie eine in einen Topf verpflanzte Blume aus einem Bauerngarten. Der Maler konnte ihr nicht geben, was sie gebraucht hätte. Er besaß es nicht. Sie hatte ihn bezaubert, weil sie alles war, was er nicht sein konnte. Er vollzog eine Art Anverwandlung, weil er sich nicht wandeln konnte.
Sie war ein paar Mal im Winter in der Stadt gewesen, zu einem Theaterbesuch, einem Konzert, einmal auch zu einem Ball. Sie hatte sich vom Leben in der Stadt Unterhaltung versprochen, hatte sich nach Abwechslung gesehnt. Sie wurde herbe enttäuscht. Der Maler ging nicht aus. Er wanderte unermüdlich mit seiner Staffelei durch die Räume ihrer gemeinsamen Wohnung


Bilder: Wikipedia gemeinfrei
Autor: chevaline



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