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Mutter's letzter Advent 1971

Von Feierabend-Mitglied 03.12.2023, 11:41

Ich lebte seit 6 Monaten mit meinen Töchtern bei meiner Mutter, sie war 55 Jahre und sehr krank. Im Oktober 1971 kam sie ins Krankenhaus, Gicht, schweres Gelenkrheuma und Nierenprobleme. Der Arzt bat uns zu einem Gespräch, er war besorgt, Mutter aß nicht, sprach nicht mehr und starrte nur noch zur Decke. Aber er sagte auch, dass es körperlich kein bedrohlicher Zustand ist und er sei ratlos. Wir beschlossen, sie nach Hause zu holen und ich würde die Pflege übernehmen. An ihrem Bett sagten wir ihr: „Mama. wir holen dich morgen nach Hause,“ aber sie reagierte nicht, wir wussten nicht einmal, ob sie bei Bewusstsein war.

Am nächsten Morgen erschraken wir sehr, ihr Bett war leer und abgezogen, wir befürchteten das Schlimmste. Wir fragten eine Schwester, sie sagte, Mutter wäre früh aufgestanden und zur Morgenandacht gegangen. Und da kam sie auch, lächelnd, auf einen Stock gestützt, unendlich matt und sagte:“ Nach Hause!“ Selbst ihre Tasche war schon gepackt.

So fuhren wir heim und Mama nahm seit Tagen eine Hühnersuppe zu sich. Bis Weihnachten waren es noch 5 Wochen, Mutter plante vom Bett aus das Fest, lud alle Geschwister ein, sie wollte einen Baum mit vielen Sternen, ein Weihnachtsessen und ihre Lieben um sich haben.Wir waren bereit, ihr jeden Wunsch zu erfüllen.

Es begann eine geschäftige Zeit, Mutter erwachte zu neuem Leben. Sie gab sehr bestimmt ihre Aufträge, das waren wir von dieser immer so stillen Person nicht gewohnt. Sie nahm hohe Gaben an Kortison, damit sie ihre verkrüppelten Hände bewegen konnte.

So verging eine geheimnisvolle Zeit. Endlich war es Heilig Abend, Oma hatte in der Küche das Essen vorbereitet, die Brüder bauten alles im Weihnachtszimmer auf, Mutter schleppte sich mit ihrem Stock, aber strahlend, auf die Couch, dann wurden die Kerzen am Baum angezündet und das Glöckchen klingelte.

Wie hatte sie es nur geschafft, ein altes Puppenhaus so wunderschön herzurichten? Sie hatte mit ihren Händen Gardinen und eine winzige Tischdecke genäht, Kissen gehäkelt, vier kleine Stoffpuppen hergestellt, ein Geschenk für meine Mädchen, ich brach in Tränen aus. Sie schaute mich liebevoll und intensiv an und sagte:“ Es hat mir soviel Freude in den letzten Wochen bereitet….

Wir verbrachten einen wunderschönen Weihnachtsabend mit einem guten Essen, Weihnachtsgedichten der Mädchen, wir sangen viele Weihnachtslieder und begleiteten uns auf verschiedenen Instrumenten. Den glockenreinen Sopran meiner Mutter und ihre Inbrunst werde ich nie vergessen.

Mutter schlief gegen 21 Uhr erschöpft auf dem Sofa ein mit einem Lächeln im Gesicht. Mir liefen ständig Tränen der Rührung über das Gesicht und ein undefinierbares Gefühl von Trauer, als ob ich schon eine innere Ahnung des Abschieds hatte. Merkwürdig, dass diese Erinnerung mich seit einigen Tagen besonders einholt und bewegt.

Nach Weihnachten legte sie sich ins Bett und stand nicht mehr auf. Sie starb am 5. Februar in meinem Arm. Mutter war friedlich und entspannt gegangen, sie war still verlöscht, wie eine Kerze.
@roshni

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