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Gregor (1)

Von Reineke1794 Dienstag 21.03.2023, 09:16 – geändert Dienstag 21.03.2023, 09:23

Gregor (1)

Nun haben wir schon Mitte März und draußen schneit es heftig. Es ist nasskalt. Es ist ungemütlich. Ein richtiges Da-bleib-ich-lieber-Zuhausewetter.

Unwillkürlich muss ich an Gregor denken.
Wie mag es ihm gehen bei solchem Wetter?
Ob er eine Chance hat, sich irgendwo aufzuwärmen?
Ob er mittlerweile eine einigermaßen ausreichende Ausrüstung hat?

In den Medien hatte es Meldungen gegeben, dass die jungen, teilweile nur unzureichend ausgebildeten russischen Wehrpflichtigen zum Teil in unverantwortlicher Weise an die Front geschickt worden seien.

Propaganda von Seiten der Ukraine?

Ich weiß es nicht, kann lediglich mit einer unbestimmten Sorge an diesen jungen Menschen denken, der da irgendwo seinen Dienst, den Wehrdienst versieht, irgendwo an einer Front, die ich nicht kenne, über die ich nichts weiß, nichts über die Umstände, den Ort, ja nicht einmal, ob Gregor Gorki, so sein voller Name, in diesem Moment überhaupt noch am Leben ist.

Von seiner Existenz weiß ich eigentlich nur von Irina.

Irina, mit Nachnamen Tutschenkow, ist die junge Frau von Pjotr. Im Oktober ist sie, nachdem ihre Wohnung nach einem russischen Raketentreffer regelrecht wegradiert worden war, aus einem Vorort von Kiew nach Berlin geflüchtet. In einem Aufnahmelager im ehemaligen Flughafen Tegel bin ich ihr begegnet und habe bei dieser Gelegenheit diese beinahe wirr anmutende Geschichte von Pjotr, also ihrem Mann, von ihr mit den zwei kleinen Kindern und schließlich auch von Gregor, dem Cousin ihres Mannes mütterlicherseits erfahren, der das Pech hatte, als Wehrpflichtiger, beinahe von Anfang an als Teilnehmer der russischen Spezialoperation gegen die „Nazi-Ukraine“ als auch gegen sie und ihre Familie, an die Front irgendwo im Osten des Landes geschickt worden zu sein.
Gregor, noch keine 20 Jahre alt, der noch bei seinen Eltern gewohnt hatte, war dabei, die Ausbildung zum Elektriker zu machen, hatte davon geträumt, in spätestens vier bis fünf Jahren seinen Meister in diesem Beruf zu machen und dann in der Nähe von Petersburg ein eigenes Geschäft zu eröffnen.

Nun, dieser Traum scheint zunächst ausgeträumt. Gregor, dieser bedauernswerte Mensch, musste, so meine Vorstellung, in seinem jungen Leben vermutlich schon ganz andere Erfahrungen machen, als in diesem Alter üblich. Welche Ängste mag er bereits durchlebt haben, die ich nicht einmal ahnen möchte, eventuell Dinge getan, die jenseits jeglicher moralisch-ethischen Vorstellung liegen, weil er in diesem Krieg schon in Situationen geraten ist, die mit einer zivilisierten Welt nichts gemein haben? Wie oft mag er in seinem so jungen Leben schon dem Tod aus nächster Nähe begegnet sein, stets gegenwärtig, das eigene vielleicht bei dem nächsten Angriff zu verlieren?

Nun, wehrpflichtig war ich auch einmal.

Wie habe ich im Frühling vor vielen Jahrzehnten etwa darunter gelitten, wenn an der Ostmauer der Kaserne Lindenblütenduft in der Luft lag, ich am Abend mich dort so gerne aufhielt - noch vor dem Abendappell- gar davon träumte, jetzt jenseits der Mauer zu sein, etwa in einem Gartenlokal bei einem Glas Wein und zu allem Überfluss gar ein Mädchen mit am Tisch. - Und Gregor? Immer häufiger muss ich an diesen jungen, fremden Menschen denken, der da vielleicht gerade in einem Schützengraben, in einem provisorischen Bunker, in einem Splittergraben mit seinen Stiefeln durch knöcheltiefen Schlamm aus Schneematsch und eingedrungenem Wasser watet, während ich es schon gehasst habe, allein beim Dienstantritt gelegentlich meine geputzten Stiefel dem Feldwebel vorzeigen zu müssen. Unvergleichlich in der Tat diese Erfahrungen des jungen Gregors heute irgendwo in der Ukraine und die meinen vor Jahrzehnten. - Was mag Gregor denken, wenn Raketen über ihn hinwegfliegen in Richtung Kharki, Kiew oder in Richtung Mykolaiv oder Odessa, die den Tod transportieren, während ich mich heute nicht entscheiden kann, ob ich bei dem Schneetreiben nicht lieber den Einkauf verschiebe? Was mag er fühlen, wenn Geschosse des aufgezwungenen Feindes ganz in der Nähe seiner Unterkunft einschlagen und er dankbar dafür ist, dass es nicht seine Stellung ist , sondern die weiter hinten oder vorne, wenn es mich im Vergleich damals schon genervt hat, wenn ich zum 24-Stunden-Wachdienst am Munitionsdepot eingeteilt war, selbst mit scharfer Munition im Gewehr als Wachhabender ausgestattet?

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