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Die Erholungsheime für Kinder

Von Feierabend-Mitglied Montag 29.05.2023, 20:25

Hallo Hubert,

meine Freude war grenzenlos (sarkastisch), als ich Deine Ansichtskarte in den Händen hielt. Momentan bereue ich, dass ich Dich angeschrieben und Dir die schöne Karte mit dem Berliner Funkturm versendet habe.
Warum schickst Du mir ausgerechnet diese Karte? Was hast Du Dir dabei gedacht? Was oder wer hat Dich veranlasst meine innere Ruhe, meinen Seelenrieden zu stören?
Nach so vielen Jahren hast Du mich mit dieser Karte zurück in die andere Zeit versetzt. In die Zeit, die ich mit Mühe verdrängt habe, um zu vergessen. Jahrelang versuchte ich mich daran nicht zu erinnern. Und jetzt kommst Du mit dieser Karte. Das hat mich aufs Neue total aufgewühlt.
Du hast vielleicht schöne Erlebnisse als Verschickungskind, ich leider nicht. Erst heute ist mir aufgefallen, dass wir uns über dieser Zeit nie richtig ausgetauscht haben. Ja, wir haben das Thema Klappholttal nie angesprochen, eher zurückgewichen. Es wird Zeit, dass wir diesen Lebensabschnitt endlich aufarbeiten und nicht von uns wegschieben, als hätte es diese Kuren nie gegeben.
Ich bin einige Jahre jünger als Du und kann nur von meiner Angst, von meinem Leid und meiner Hilflosigkeit berichten. Du warst damals etwa 14 -15 Jahre alt und „Hilfserzieher“. Die Jungs, besonders die Älteren, haben sowieso mehr Freiheiten als wir, die Mädchen und Kleinkinder. Wir lebten in getrennten Barracken und vielleicht hast Du nicht alles mitbekommen oder vieles nicht sehen wollen.
So frage ich Dich jetzt, als eine reife Frau, hast Du nicht manchmal ein schlechtes Gewissen, dass Du Dich nicht vor uns gestellt hast?
Damals war ich nicht so lebenserfahren/weise, wie heute. Auch mit neun Jahren habe ich manches vergessen, oder nicht verstanden. Und das war gut so, sonst wäre ich an meinen Erinnerungen erstickt.
Vielleicht siehst Du auf dieser Luftaufnahme von Klappholttal einige Gebäude aus damaliger Zeit. Ich nicht. Ich sehe nur die schrecklichen Barracken. Meine Nase ist “verseucht“, noch heute, von dem penetranten Geruch von Urin und Erbrochenes. Wir, die Kleinsten, schliefen in Etagenbetten oder auf den Klappliegen. Über 30 Kinder in einem Raum. Nachts dürften wir nicht auf die Toilette gehen. Auch das Weinen war strengstens verboten. Das galt auch für die Mittagsruhe. Es war düster und unheimlich leise in unseren langen, dunklen Sälen und Fluren. Wer weinte wurde sofort mit der kalten Dusche bestraft. Wir mussten so lange am Esstisch sitzen, bis alle Teller leer waren. Viele haben sich übergeben, weil das Essen furchtbar war. Jeden Tag diese lauwarme, graue Haferbrühe, die gelb-grünlich schimmerte und roh, als hätte sich jemand schon in den großen Kessel erbrochen. Und tatsächlich jedes zweite Kind hat diese Suppe nicht gut bekommen. Sie müssten dann das Erbrochene auslöffeln.
Ich musste da 6 Wochen bleiben, ohne jeglichen Kontakt zum Eltern, zu der Familie. Nachts weinte ich leise und sehnte mich nach unserem Bauernhof. Da dürften die Tiere und Kinder frei rumlaufen, waren nicht eingesperrt. Eine Erzieherin hat mich in einer Nacht beim Weinen erwischt und mir meine Puppe weggenommen. Seit diesem Tag wachte ich öfter in nassem Bett, das ich jeden morgen schön und akkurat zurecht gemacht habe. Unsere Koffer wurden uns sofort bei der Ankunft abgenommen, drum meine Wäsche, vor allem meinen Schlafanzug, konnte ich nicht wechseln. Nach etwa zwei Wochen wurde ich krank. Ich bekam hohes Fieber und ich konnte nichts bei mir behalten. So glaube ich 3-4 Tage im Bett gelegen zu haben, ganz allein mit meinen Leid, denn niemand sich um mich gekümmert hat. Dann wurde doch ein Arzt geholt. So bekam ich irgendwelche Medikamente und seit dem Tag war meine Wahrnehmung sehr eingeschränkt. Ich bekam nicht alles mit, war schläfrig und apathisch. Nach einiger Zeit hat man mir nahgelegt, dass ich endlich aufstehen muss. Die Erzieherinnen haben mir sogar erlaubt am Strand kurze Spaziergänge zu unternehmen. Da habe ich Dich mit den anderen Jungen beim Fussballspiel gesehen und gerne zugeschaut. Leider keine Mädchen oder gar Kleinkinder in der Nähe konnte ich erblicken.
Ich habe in den letzten Tagen, weil ich mich freier bewegen konnte, gemerkt, dass manche Erzieherinnen nett, sogar sehr nett zu den älteren Jungen waren.
Erst später, als ich schon verheiratet war und mit meinem Mann auf das Thema „Kinderverschickung“ kam, ist in mir ein Verdacht aufgekeimt, dass möglicherweise auch sexuelle Belästigung hier in Spiel war.
Was soll ich Dir noch schreiben?
Ich kam nach Hause krank, gebrochen - psychisch und physisch. Bei wem soll ich mir Hilfe holen? Meine Eltern staunten nicht schlecht, dass ich so abgemagert war. Viele Gedanken haben sie sich auch nicht gemacht. Der Alltag meiner Eltern war schweißtreibend, also genug hart.
Jahrelang habe ich alles verdrängt. Auch die Menschen aus meinem Umfeld haben es nichts gemerkt und von meinem Leid nie erfahren.
Die Idee von Erholungsheimen sollte eine Bereicherung für die Kinder und eine Entlastung für die Eltern erwirken. Niemand hat sich damals tieferen Gedanken gemacht um die Folgen solche Trennung auf längere Zeit, vor allem für die Kleinkinder.
Lange dachte ich selbst, es war nun so, also normal, bis ich meinen jetzigen Ehemann kennengelernt habe. Er war auch als Verschickungskind in Bayern gewesen. Drei Jahre nacheinander. Hat auch schlimme Erlebnisse aus dieser Zeit mit sich geschleppt. Was für Glück, dass wir uns gefunden haben.
Du schreibst: „Man staunt, was der menschliche Geist alles erfindet“. Ich denke, in diesem Fall „Staunen“ ist das falsche Wort. „Bedauern“ passt auf dieser Stelle besser. Stimmt nur, dass leider alles von menschen Hand gemacht, in Menschen-Köpfen gereift war.
Ich frage mich immer noch, wer hat hier von dieser, im Grunde lobenswerten Idee, profitiert? Die Kinder, mit ein paar Ausnahmen, bestimmt nicht. Die unqualifizierte Erzieher/innen?
Die Krankenkassen haben diese „Kuren“ bezahlt. Was haben die Aufsichtsbehörden gemacht?
Ich bin gespannt, wie Du auf meinen Brief reagierst? Vielleicht berichtest Du mir auch ganz ehrlich von Deinen Erfahrungen in solchen Heimen? Ich habe Gefühl, dass es bei Dir um mehrere Kuren sich handeln könne. Die ersten Kinderheime hast Du wahrscheinlich als noch kleiner Bub erlebt, oder irre ich mich?
Mittlerweile sind viele von den Betroffenen damaligen Kindern in einer AGVerschickungskind registriert und über eine Heimdatenbank mit anderen vernetzt. Hier kann jeder eigene Leidensgeschichte veröffentlichen oder auch sich mit den Betroffenen auszutauschen.
Und Du, als gestandener Rechtsanwalt, scheust Du Dich das Erlebte öffentlich zu machen und den Missbrauchten Deine Hilfe, in rechtlichen Sinne, anzubieten?
Dein Verhalten empfinde ich, den vielen misshandelten Kinder gegenüber, als unangemessen. Ich habe viele Berichterstattungen gelesen und mir ist klar, es gibt viele Opfer, viele Täter und auch Menschen, die selbst Opfer und zugleich Täter sind.
Unter diesen Umständen ist mir nicht möglich mit Dir im Kontakt zu bleiben, wenigsten so lange, bis ich eine klare Stellungnahme von Deiner Seite zu diesem Thema entnehme.
Ich habe Bedenken, dass mit jeder Nachricht von Dir die schmerzhaften Erinnerungen in mir wieder belebt werden und das Unerklärte wird sich immer zwischen uns zerstörerisch drängen. Das möchte ich vermeiden und auch wieder zu meinem inneren Gleichgewicht zurückfinden.
Du selbst hast alles in Deiner Hand. Brauchst Dich nur zu entscheiden, ob Du den Ballast endlich abwerfen möchtest oder weiter Dich damit belasten. Es gibt viele Möglichkeiten die Vergangenheit aufzuarbeiten. Dies wäre doch die beste Methode und die einfachste.
Ich hoffe, von Dir klärende Worte zu hören. Falls Du Dir doch anders überlegst, dann sage ich Dir Lebewohl.
Rosemarie Wolf

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