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BEGEGNUNG

Von egalis 16.06.2019, 19:47

Oft haben wir uns getroffen.
Sie, die kleine weißhaarige alte Dame, kam aus dem Seniorenzentrum. Das ist dicht bei der Seniorensiedlung, in der ich zu Hause bin. Meistens spaziert einer rechts herum und der andere links herum und irgendwo treffen wir uns.

Noch vor sieben Uhr am Sonntagmorgen war ich unterwegs zu meinem bevorzugten Weg am Kanal. Die Sonne schien aus allen Knopflöchern. Schwarzbuntes Vieh fraß oder lag wiederkäuend auf der Weide. Vögel zwitscherten und flöteten um die Wette. Eine Entenmutter lockte ihre vier Küken ins Wasser. Andere Wasservögel schwammen zum anderen Ufer.
Ich bedaure stets, dass die Tiere vor uns Menschen flüchten. Aber ich habe mich doch gefreut, dass ich sie und die ganze Sommerpracht, das Blühen und Grünen erlebte und ging frohgemut nach Hause.

Nicht weit davon sind wir uns begegnet.
Die alte Dame und ich blieben voreinander stehen, um ein paar Worte zu wechseln. Erst war es wie immer. Wie geht’s, wo sind Sie langgegangen, wie lange schon unterwegs und was man so redet.

Aber dann sagte die Dame, dass ich mich nicht wundern solle, wenn ich sie bald nicht mehr zu sehen bekäme. Sie hätte Leukämie und ihr Leben wäre vorbei. Hilfe gäbe es nicht mehr. Es ist zu spät. Sie hatte auf eine Insel sollen, wo es ihr dem Vernehmen nach besser gehen sollte. Das wollte sie aber nicht. Die Familie ihres Sohnes ist hier in der Nähe. Hier wollte sie noch so lange bleiben, wie es ging.

Ich habe mich arg erschrocken und musste sie erst in die Arme nehmen. Sie hat sich wohl schon sehr mit dem Gedanken ans Sterben auseinander gesetzt und war froh darüber, dass sie noch ihren achtzigsten Geburtstag feiern konnte. Aber schade sei es doch, sie hätte noch gerne gelebt.
Mit guten Wünschen trennten wir uns. Was sagt man in so einer Situation?
Es kam mir vor wie eine Farce.

Mit diesem Erlebnis unserer Begegnung und dem Denken an das Gehörte, habe ich den größten Teil des Sonntags verbracht, darüber nachgedacht und meine Gedanken waren bei ihr. Ich hoffe sehr, dass die alte Dame noch eine Zeit leben und erleben kann, die ihr zusagt und dass wir uns noch wieder begegnen und miteinander reden können.

Dabei ist mir eingefallen, dass ich in ein paar Monaten so alt bin wie mein Vater, als er starb....

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