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Weihnachten 1947

Von Sylvesterscherz Samstag 23.12.2023, 09:48 – geändert Samstag 23.12.2023, 15:57

Wo – und vor Allem, wie – kann man in dieser drangvollen Enge noch einen Weihnachtsbaum unterbringen?

Das ganze Zimmer ist vollgestopft mit Möbeln aus dem „Wilhelminischen Barock“!
Zwei Kleiderschränke, ein Ehebett, zwei Kinderbetten, ein Vertiko, ein raumhoher Spiegel mit Ablage, ein ausziehbarer Esstisch mit vier lederbezogenen Stühlen vor einem „Scheeselong mit Aufsatz“ – und zu guter Letzt ein Tischchen aus Peddigrohr mit zwei Sesselchen.

Ach ja – der Weihnachtsbaum!

In das Eckchen zwischen dem großen Fenster und dem Scheeselong, da wird der Weihnachtsbaum hingequetscht.
Es ist ein Riesenbaum – oder ist das Kind so klein? – doch er steht günstig, dem hohen Spiegel gegenüber.
So wird das Licht der wenigen Kerzen verdoppelt und das Zimmer heller erleuchtet.
„Richtige“, gehamsterte, abgesparte Kerzen!
In diesem übervoll möblierten Raum eine einzige Katastrophe – ein überdimensionierter Leichtsinn, denn jeder Funken kann einen Brand auslösen.

Für die Eltern wäre der Schaden gering.
Zwei Bomben in zwei Wohnungen haben dafür gesorgt, dass das Hab und Gut auf ein Minimum reduziert wurde.
Aber die Vatermutter und die Tanten – das Unglück wäre nicht auszudenken!

So besteht die Hauptaufgabe der fünf Erwachsenen darin, die Kinder nicht aus den Augen zu lassen.
Einer muss sie immer im Blickfeld haben.
Die Pflicht wird dadurch erleichtert, dass die Geschwister ihre „Sonntagskleidung“ während der ganzen Tage bis zum 6. Januar nicht ausziehen dürfen.
Ruhig und ordentlich müssen sie durchs Zimmer schleichen oder auf den harten Lederstühlen sitzen und aus zwei Meter Entfernung den Baum anschauen.

Anschauen – um Gottes Willen nicht anfassen!
Um Gottes Willen nicht an die Kerzen!
Und um Gottes Willen nicht die Gardine bewegen!
Der Wille Gottes ist reichlich lästig!
Immer nur sitzen und Weihnachtslieder singen!
„Der Junge hat doch so eine schöne Stimme“!

Geschenke?
2 Garnituren Unterwäsche, ein neues, kratziges Leibchen an dem die Gummibänder noch nicht ausgeleiert sind, einen Pullover, der von einer Freundin der Tante aus aufgeriffelter Wolle neu gestrickt wurde, jedes Jahr für das Kind eine alte, "neue" Puppe aus dem Archiv der Tanten und einen bunten Teller!

Das Kind kann es nicht mehr abwarten, dass der grässliche Baum seine Nadeln verliert.
Heimlich streicht es an den pieksigen Zweigen entlang, damit das getrocknete Grün auf den Teppich fällt!
Einen Staubsauger gibt es nicht!
Die Mutter muss jeden Tag, mit Handfeger und Müllschippe bewaffnet, unter den Tisch krabbeln und den spitzen Abfall, der sich zudem noch tief in den Teppichflor gebohrt hat, zusammensammeln.

Am Dreikönigstag ist die Weihnachtszeit vorbei!
Der Baum wird abgeputzt, zerhackt und in den Ofen gesteckt.
So spendet er noch lange Wärme.
Der Vater übernimmt die Zerkleinerung.
Davon ist er so entkräftet, dass er alles andere großzügig seiner lieben Frau überlässt.
Die Teppiche vorzerren, zusammenrollen, runtertragen, ausklopfen – jede einzelne Fichtennadel einzeln aus dem Flor ziehen, ausbürsten, zusammenrollen, von der Klopfstange wuchten und wieder in die Wohnung schleppen!
Für die Tanten besteht nicht der geringste Anlass, der Bruderfrau etwas abzunehmen.
Der Baum stand ja schließlich nicht in ihrem Zimmer!

Dankbarkeit spielt in diesen Tagen überdimensional große Rolle.
Man muss doch ewig dankbar sein!
Dankbar für die Unterkunft, die die Vatermutter so überaus großzügig und selbstlos gewährt hat – dass die Kinder dafür ihre Lebensmittelmarken abgeben müssen, bedarf keiner Erwähnung, sie brauchen ja nicht so viel!
Dankbar dafür, dass sich die Vatermutter und die Tanten für die angeheiratete Bagage beschränken!
Aber – wenn die Bruderfrau mit den Kindern nicht eingezogen wäre, hätten sie noch mehr fremde Leute aufnehmen müssen.
Dankbar – dankbar – dankbar – dass Kind hasst Dankbarkeit!
Dankbarkeit wird eingefordert, wie beim Kaufmann die Bezahlung.
Niemand schenkt etwas her in dieser Familie.
Keine Freundlichkeit, kein Lächeln – immer bleibt man etwas schuldig!

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