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Der Rosenkranz der Gefangenen

Von ehemaliges Mitglied Freitag 23.10.2020, 08:56


„Ich bin nun schon viele Jahre Arzt hier im Durchgangslager für Heimkehrer. Nehmen sie es also einem erfahrenen Mediziner nicht übel, wenn ich die erstaunte Frage stelle, wie e ihnen möglich war, so gesund an Leib und Seele aus Sibirien heimzukehren.
Das Mädchen in der grau wattierten Steppjacke senkte die Augen, und ein schwaches Rot fuhr bis unter das fahle Kopftuch und machte ihr Gesicht zart und mädchenhaft. Der Arzt bemerkte, dass in diesen Zügen nicht jene Stumpfheit und Resignation zu finden war, die sonst die Gesichter Kriegsgefangener Frauen zu prägen pflegten. Als das Mädchen den väterlich forschenden Augen begegnete, sagte sie stockend:

„Ich glaube, das verdanke ich — dem hier!” und zog aus der Tasche ein Etwas, das sie behutsam dem Arzt in die ausgestreckte Hand gab. Verwundert schaute der Arzt auf einen graubraunen, anscheinend selbst gebastelten Rosenkranz.
„Ja, es hat eine besondere Bewandtnis damit", gestand das Mädchen. Sie strich befangen über die Stirn und erzählte leise:„Anfangs war es uns natürlich nicht erlaubt, einen Rosenkranz zu besitzen. Als ich aus meinem Heimatdorf bei Königsfeld in Gefangenschaft gebracht wurde, war ich erst siebzehn Jahre alt und trug meinen blauweißen Mädchen-Rosenkranz allezeit in der Tasche, um ihn auf dem Feld oder sonst wo beten zu können. Schon auf dem Transport wurde er mir abgenommen. In den Dämmerstunden des sibirischen Lagers erwachte immer stärker in uns das Verlangen nach Gemeinsamkeit, nach Wärme und jener Nähe, die das Rosenkranzgebet untereinander schafft. Wir beteten an den Fingern die Bibel der Verlassenen, um die sich kein Priester mehr kümmerte. Alles musste uns der Rosenkranz ersetzen, was wir an religiösen Übungen gewohnt waren. Und Not macht erfinderisch.
Wir hatten da eine Studentin, welche die Kunstakademie besucht hatte und einmal Bildhauerin werden wollte. Als sie eines Tages auf ihrem Strohsack einige Krumen steinhart gewordenen Lagerbrotes fand, kam ihr ein Gedanke. Plötzlich brach sie ein Häppchen von ihrer kargen Tagesration ab und legte es beiseite, und wenig später sahen wir verwundert, wie sie aus Wasser und Brot emsig kleine Kügelchen formte und nebeneinander legte in ihr blechernes Kochgeschirr. Auf unsere Frage schwieg sie nur geheimnisvoll. Nach einigen Tagen rappelte es bereits lustig in ihrem Behälter, und Anke, so hieß unsere Künstlerin, holte die gemeinsam genutzte Lagerstopfnadel und den Zwirn und bohrte vorsichtig ein Loch durch jede „Perle", zog den Faden und knotete ihn mit spitzen Fingern. Da wussten wir freilich, was das bedeuten sollte. „Aber Anke, so ein heiliger Gegenstand — und aus Brot, ist das keine Sünde?", fragte ich. Sie sah mich ernst an. „Da frag dich selbst, ob dieses aus Übermut oder aus Not geschieht. Wenn unser Heiland sich nicht scheut, für uns ins Brot hernieder zu steigen, wird Er auch mit Nachsicht auf diesen Rosenkranz sehen."

Nach wenigen Wochen besaß jede von uns einen buchstäblich vom Munde abgehungerten Rosenkranz.
Eines Morgens aber kam ich betrübt, mit Tränen der Beschämung in den Augen, zu Anke, und gestand ihr, dass ich am Abend über dem Beten eingeschlafen sei und da — und da — ja, die Mäuse hätten meinen Rosenkranz angeknabbert und mir nur die zerfranste Schnur übrig gelassen mit den paar „Perlen", die ich umklammert hielt. Anke lachte und weinte fast zugleich und machte sich in Eile daran, einen neuen Rosenkranz zu formen. Aber sie war bereits zu sicher geworden. Mitten in der Arbeit wurde sie vom Posten überrascht, und der nahm sie zum Lagerführer mit zum Verhör.

Und wenn wir auch unsere Rosenkränze eilig hatten verschwinden lassen, im Herzen beteten wir nun alle das eine Gesätz für Anke, „der für uns Blut geschwitzt hat", so zitterten wir doch um die Kameradin. Aber nach kurzer Zeit kam sie wieder, strahlend über das ganze Gesicht.
Von allen Seiten wurde sie natürlich mit Fragen bestürmt: „Was hat der Iwan gesagt? Erhalten wir Strafe?" Erst nach einer Weile konnte sie erzählen: Erst habe der Lagerführer sie mächtig angepfiffen, ob sie das Verbot nicht kenne, Andachtsgegenstände — er nannte sie Fetische des Aberglaubens — zu besitzen. Zweite Frage sei gewesen, woher sie das Ding habe. Gebastelt? Woraus? Da hatte Anke in ihrem Herzen zur Gottesmutter gerufen und tapfer gesagt: „Das ist aus Brot. Das ist unsere Eiserne Ration." Erst sei der Lagerführer erstarrt gewesen vor Staunen, dann habe er vorsichtig eine Perle zwischen den Fingern zerdrückt, daran gerochen, den Kopf geschüttelt und die Wache hinausgehen heißen. Und so Auge in Auge mit ihr sei er aufgestanden und habe die Erbleichende angeschrien: „Eiserne Ration? Was soll das heißen? Kriegt ihr nicht genug?" Da habe Anke seinen Blick ausgehalten und gesagt: „Jawohl, Genosse Lagerführer, das ist die Eiserne Ration für unsere Seelen. Die sind ausgehungert nach Gott! — Sekundenlang habe der Russe sie angestarrt, und dann plötzlich sei ein Flackern in seinen Blick gekommen, er habe die Augen gesenkt, ihr den Rosenkranz zugeschoben und mit rauer Stimme nur ein Wort gesagt: „Behalten!" — Dann habe sie sich umgedreht und — nun ja, sie stehe noch heil vor uns und habe alle Hoffnung, dass die Gottesmutter noch weiter helfen werde. — Und sehen Sie, Herr Doktor, ich meine, sie hat es getan. Das Schlimmste blieb uns erspart. Man könnte viele Gründe anführen. Ich weiß nur — den da!

Ancilla Regis — MARIA

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