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Der Schokoladenmann

Von Novelle Montag 27.11.2017, 21:18

Der Schokoladenmann
Ich stehe am offenen Grab meines Vaters. Aus den Augenwinkeln erspähe ich unwillkürlich, dass ein bekannter, weißer Kombi die Dorfstraße langsam entlang rollt. Das Taxiunternehmen R. gibt ihm also auch die letzte Ehre. Dort war er schließlich Stammkunde. Jeden Abend ließ er sich in ein bestimmtes Lokal kutschieren. Nach kurzem Aufenthalt ging es wieder nach Hause. Da er kaum mehr etwas hörte, nur schlecht sehen konnte, hatte er einen Zettel vorbereitet: Bitte, rufen Sie die Taxinummer ... an. Der Kellner wusste auch ohne diesen Zettel, was zu tun ist. Seine Lieblingsfahrerin begleitete ihn immer bis vor die Haustür. Ein kleines Geschenk für sie, hatte er auch schon vorbereitet. Es handelte sich um eine Markenschokolade. Einmal erzählte mir die Chauffeuse, wenn sie die Tafel Schokolade stets essen würde, könnte er sich an ihrer Figur nicht mehr erfreuen.

Mich friert entsetzlich. Den angebotenen Pelzmantel habe ich abgelehnt. Statt meines roten Anoraks trage ich eine dünne, dunkle Tuchjacke. Die hat mir eine Nachbarin zur Verfügung gestellt.
Ich bin nicht mehr ich. Alles spielt sich wie in einem Kinofilm ab.

Der bleichgesichtige Bestattungsunternehmer mit den gefärbten Haaren zeigt sich ungehalten. Auf dem Friedhof haben die Sargträger den falschen Weg eingeschlagen. Wie ausgefüllt mit Besuchern die letzte Ruhestätte ist.
Unweit steht die Pflegedienstleiterin mit einer jungen Angestellten. Der hübschen Pflegerin überreichte er täglich eine Schokolade. Jetzt weint die Pflegeschwester. Die Pflegedienstleiterin weint nicht. Ich kann nicht weinen.

Seine wohlgenährte Haushälterin klagte mir einmal, dass sie nie von ihm eine Süßigkeit erhält. Sie erntete nicht sein Wohlgefallen. Männer beglückte er in der Regel nicht mit Schokolade. Manchem Mann trug er auf, die Kakaobombe dieser oder jener Dame zu bringen. Der Wunsch wurde ihm nicht ordnungsgemäß erfüllt. Die esse ich selbst sagte mir einmal ein Mann.
Früher arbeitete mein Vater in der Lebensmittelbranche. Schokoladen hielt er gut sortiert in Kartons vorrätig. Qualität war ihm wichtig. Weihnachten gab es regelmäßig ein Lebkuchenpaket einer sehr bekannten Lebkuchenfirma.

Bevor ich mit dem Zug in meine Wahlheimat reise, betrete ich sein verwaistes Büro. In einem offenen Regal türmen sich die Schokoladentafeln. Erst unlängst hatte er mir aufgetragen, Nachschub zu kaufen. Seine Handlungen begriff er überwiegend nicht mehr. Er wollte unbedingt Gutes tun und war überzeugt davon. Die meisten Pflegerinnen legten heimlich die Tafeln in das Regal zurück. Als ich einmal mit ihm über die Süßigkeiten sprechen wollte, schaute er mich verständnislos an. Mitunter schenkte er dem Pfarrer, dem Arzt, den Nachbarn, den Verwandten Schokolade. Eine Vollmilchschokolade mit Marzipanfüllung steckte ich in meine Handtasche. Ich habe sie nie gegessen. Die Beerdigung liegt Jahre zurück. Das Grab habe ich nie mehr aufgesucht. Einmal im Jahr, wenn das Jahr zu Ende geht, erhalte ich von der Gärtnerei die Rechnung für die Grabpflege. Auf Wunsch wurde mir ein Foto des Grabes geschickt. Den Tod meines Vaters habe ich bis heute nicht verwunden.


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