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Ein zahmer Kanarienvogel

Von tastifix Mittwoch 10.08.2022, 13:50

Als ich sieben Jahre alt war, schenkten mir meine Eltern einen Kanarienvogel. Im Tiergeschäft fragten wir die Vögel, welcher von ihnen daran interessiert sei, sein Leben mit mir zu teilen. Ein sehr keckes Exemplar meinte dazu:
„Piieep!"
So völlig sicher war er sich aber wohl noch nicht, wiegte den zitronengelben Kopf hin und her und gab dann seine Entscheidung kund:
„Tririli-piep!"
Ohne Angst hüpfte er nah ans Gitter und musterte mich neugierig. Klar gab dann ´Piep` den Ausschlag und zu Weinachten stand dann ein hübscher Vogelbauer neben dem Christbaum.

Hänschen bewies weiterhin, wie kess er war. Nach kurzer Eingewöhnungszeit streckte ich die Hand in den Bauer. Zunächst flatterte er ein wenig verunsichert herum. Aber dann hüpfte er das erste Mal auf meinen Finger und blieb tatsächlich sitzen. Ein paar Tage später öffnete ich die Käfigtür und wartete ab. Hänschen verließ sein Heim und trippelte auf dem Tisch davor hin und her. Wieder hielt ich ihm den Figner vors Bäuchlein und er kletterte darauf.

Es war der Beginn einer jahrelangen engen Freundschaft. Kam ich aus der Schule, flog mir der kleine Kerl quer durchs Zimmer freudig trällernd entgegen, landete auf meiner Schulter und knabberte zärtlich an meinen Haaren. Dann stimmte er sein schönstes Begrüßungslied an.
Er durfte durch die ganze Wohnung fliegen, selbst durch das große zweigeteilte Wohnzimmer, in dem er sich als Lieblingsaussichtsplatz den Kronleuchter erwählte. Von dort oben hatte er alles bestens unter Kontrolle. Doch nickte ich kurz, schoss er im Sturzflug zu mir und setzte sich auf meine Schulter.

Als Schulkind war ich zu so lästigen Beschäftigungen wie den Hausaufgaben verdammt. Hänschen versüßte mir jene Stunden. Er dachte nicht daran, mich in Ruhe lernen zu lassen. Dazu war es wohl viel zu spannend, was ich da so trieb. Kurzentschlossen hüpfte er auf die Hand, mit der ich schrieb und guckte zu, so, als ob er das Ergebnis meiner Bemühungen überprüfen würde.

Dauerte ihm das Ganze zu lange, hüpfte er solange auf dem Schreibtisch herum, bis ich aufhörte und mit ihm "Tauziehen" spielte. Hänschen liebte frische Salatblätter. Ein solches ernannten wir zum besagten Lappen, um den wir kleine Kämpfe ausfochten. Er hing schimpfend mit dem Schnabel an einer Ecke des Salatleckerchens und ich hielt es mit zwei Fingern am anderen Ende fest. Dann ruckelte ich mit dem Blatt vorsichtig hin und her. Hänschen gab keinesfalls auf, sondern meckerte derweil ständig lauter, ohne das Blättchen dabei etwa loszulassen. Offensichtlich ärgerte sich der kleine Macho maßlos, dass sein Frauchen dermaßen stur blieb. Aus den niedlichen Knopfaugen trafen mich wütende Blicke. Weil die Siegeschancen sehr ungerecht verteilt waren, gab ich als liebendes Frauchen irgendwann nach, worauf das Meckern urplötzlich ein Ende fand und ich wieder meinen verschmusten kleinen Freund auf der Hand sitzen hatte.

Aber wir kannten noch andere Spiele: Der Käfig hing an einer Stange und besaß ein weit ausladendes Dach. Hänschen war mittlerweile so zahm, dass ich ihn auf ein Steiff-Zebra setzen konnte, dessen Beine ich zwischen die Stäbe des Daches geklemmt hatte. Dort hockte er dann, ohne sich von der Stelle zu rühren. Vorsichtig drehte ich den Käfig. Jedes Mal, wenn die Haltestange genau über seinem Kopf war, duckte er sich kurz und setzte sich sofort danach wieder kerzengerade hin. Dieses Spiel durfte ich stundenlang mit ihm spielen. Anscheinend machte es ihm regelrecht Spaß.
Lag ich krank im Bett, kam er angeflogen, hockte sich entweder auf den Kleiderschrank oder trippelte übers Oberbett bis zum Kopfkissen, um sich dort eng neben meinem Gesicht niederzulassen.

Hänschen wurde immerhin elf Jahre alt. Diesen gefiederten Freund aus Kindertagen habe ich nie vergessen und höre ihn in der Erinnerung immer noch laut singen. Heute glaube ich, dass unser Verhältnis zueinander eher ungewöhnlich war, denn diese Vögel sind eigentlich recht scheu.

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