Unsicherheit

Lilly*, Ich brauche ewig, um mich zu verlieben, aber wenn es passiert, dann so richtig.
Wie bei meinem Ex-Freund. Drei Jahre lang habe ich ihn nur im Sommer gesehen, wenn wir in einer Kleinstadt gemeinsam an einem Projekt mitgearbeitet haben. Das erste Jahr habe ich gebraucht, um mir meine Gefühle selbst einzugestehen, ein weiteres, um mich jemandem anzuvertrauen. Ihm habe ich nichts gesagt. Stattdessen habe ich in meinem Kopf immer verschiedene Szenarios durchgespielt. Hat er kein Interesse ? Ist er vielleicht ähnlich verunsichert wie ich ? Ich hoffte natürlich auf Letzteres, aber ich hatte nicht den Mut, mit ihm zu reden. Meine Furcht vor einer Zurückweisung war zu groß.

Im dritten Sommer gingen wir in einer Gruppe in einen kleinen, verrauchten Club. Später am Abend habe ich ihm mit einem Stift meine Nummer auf den Arm geschrieben. Ich wollte endlich, dass wir uns näherkommen. An der frischen Luft gestanden wir uns dann, dass wir ineinander verliebt sind. Noch in dieser ersten Nacht ist mir ein "Ich liebe dich" rausgerutscht. Ich habe es genau so gemeint.

Drei Monate später bin ich für ein freiwilliges Jahr nach Lateinamerika gegangen. Wir hatten vereinbart, dass wir trotzdem versuchen, zusammenzubleiben. Aber je länger ich weg war, desto weniger Kontakt hatten wir. Ich rief ihn an und schrieb Nachrichten, doch von ihm kam nicht viel zurück. Als ich wegen der Pandemie schon nach einem halben Jahr wiederkam, haben wir uns an den Hafen unserer Heimatstadt gesetzt, und er hat mit mir Schluss gemacht.
Ich hätte mir gewünscht, dass wir von Anfang an und auch am Ende offener geredet hätten. Er war meine erste richtige Liebe.

Ich überlege, ob ich ihn noch mal anrufe. Wenn ich ihm etwas sagen könnte, dann, dass ich ihm nicht böse bin.

Aufgezeichnet von F. Herrmann - liebe@zeit.de 22.07.2021