Magie

Klaus*, 80 : "An einem Sonntagmorgen vor 40 Jahren fuhr ich mit meinem Auto durch Washington. Die Stadt war noch leer. Ich besuchte meine Schwester dort und kannte die Gegend, deshalb brauchte ich keine Karte. Aber dann verlor ich bei der Suche nach einer Abkürzung die Orientierung - und landete in einem ruhigen Vorort.
Es war ein wirklich schöner Herbsttag, überall lag Laub, und der Geruch der Laubfeuer in den Vorgärten hing in der Luft. Als ich eine Frau in ihrem Garten sah, stieg ich aus und ging auf sie zu, um sie nach dem Weg zu fragen. Sie harkte gerade die bunt gefärbten Blätter zusammen. "I am lost", sagte ich zu ihr. Sie stellte den Rechen beiseite und kam zum Zaun.
Ich erinnere mich noch ganz genau : Sie trug einen rostfarbenen, grob gestrickten Pullover. Durch ihre randlose Brille sah sie mich an. Sie hatte melancholische braune Augen. Für einen Augenblick schauten wir uns schweigend an. Es war seltsam. Ich hatte das Gefühl, als könnte ich in ihre Seele blicken.
Dann sah sie an mir vorbei und erklärte mir den Weg. Ich bedankte mich. Auf dem Weg zurück zu meinem Wagen fühlte ich mich, als wäre ich gerade verlassen worden, als wäre ein Band zwischen uns zerrissen.
Ich war danach noch oft in Washington. Manchmal fuhr ich durch die Vororte und hoffte auf ein zufälliges Wiedersehen. Ich hätte sie gern gefragt, ob sie dasselbe auch gespürt hatte. Aber mit den Jahren entschied ich mich dagegen, sie zu suchen. Ich weiß: Die Magie des Augenblicks hätte sich aufgelöst.
Noch heute sehe ich ihr Gesicht deutlich vor mir und ihe Augen, die etwas von der Wärme ihrer Seele auszustrahlen schienen. Diese Begegnung, die nur ein paar Minuten dauerte, erinnert mich daran, dass die meisten Menschen ihre Fehler bereuen - dabei sollten wir die Dinge bedauern, die wir verpasst haben.

Kopie aus LEXIKON DER LIEBE Nr. 19 Zeit.de