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Heinrich Heine - Die Harzreise

Von EwigerBrunnen01 18.02.2024, 10:33 – geändert 18.02.2024, 10:34

Bild: Zum. Brocken

Folgendes ist zwar aus keinem Brief, aber man bekommt den Eindruck dass Heine an sein Publikum geschrieben hat:

"Es ist ein schöner Tag! Überall sehe ich die grüne Farbe, die Farbe der Hoffnung. Überall, wie holde Wunder, blühen hervor die Blumen, und auch mein Herz will wieder blühen. Dieses Herz ist auch eine Blume, eine gar wunderliche. Es ist kein bescheidenes Veilchen, keine lachende Rose, keine reine Lilie oder sonstiges Blümchen, das mit artiger Lieblichkeit den Mädchensinn erfreut, und sich hübsch vor den hübschen Busen stecken lässt, und heute welkt und morgen wieder blüht. Dieses Herz gleicht mehr jener schweren, abenteuerlichen Blume aus den Wäldern Brasiliens, die, der Sage nach, alle hundert Jahre nur einmal blüht.

Ich erinnere mich, dass ich als Knabe eine solche Blume gesehen. Wir hörten in der Nacht einen Schuss, wie von einer Pistole, und am folgenden Morgen erzählten mir die Nachbarskinder, dass es ihre „Aloe“ gewesen sei. Sie führten mich in ihren Garten, und da sah ich, zu meiner Verwunderung, dass das niedrige, harte Gewächs, mit den närrisch breiten, scharfgezackten Blättern, woran man sich leicht verletzen konnte, jetzt ganz in die Höhe geschossen war, und oben, wie eine goldene Krone, die herrlichste Blüte trug. Wir Kinder konnten nicht so hoch hinauf sehen, und der alte, schmunzelnde Christian, der uns lieb hatte, baute eine hölzerne Treppe um die Blume herum, und da kletterten wir hinauf wie die Katzen, und schauten neugierig in den offenen Blumenkelch, woraus die gelben Strahlenfäden und wildfremden Düfte mit unerhörter Pracht hervordrangen.

Oft und leicht kommt dieses Herz nicht zum Blühen; so viel ich mich erinnere, hat es nur ein einziges Mal geblüht, und das mag schon lange her sein, gewiss schon hundert Jahr. Ich glaube, so herrlich auch damals seine Blüte sich entfaltete, so musste sie doch aus Mangel an Sonnenschein und Wärme elendiglich verkümmern, wenn sie nicht gar von einem dunkeln Wintersturme gewaltsam zerstört worden. Jetzt aber regt und drängt es sich wieder in meiner Brust, und hörst du plötzlich den Schuss – Mädchen erschrick nicht! Ich hab’ mich nicht tot geschossen, sondern meine Liebe sprengt ihre Knospe und schießt empor in strahlenden Liedern, in ewigen Dithyramben, in freudigster Sangesfülle.

Es ist noch früh am Tage, die Sonne hat kaum die Hälfte ihres Weges zurückgelegt, und mein Herz duftet schon so stark, dass es mir betäubend zu Kopfe steigt, dass ich nicht mehr weiß, wo die Ironie aufhört und der Himmel anfängt, dass ich die Luft mit meinen Seufzern bevölkere, und dass ich selbst wieder zerrinnen möchte in süße Atome, in die unerschaffene Gottheit – wie soll das erst gehen, wenn es Nacht wird und die Sterne am Himmel erscheinen - - - -

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