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“Die heilige Nacht” - Selma Lagerlöf

Von Feierabend-Mitglied 26.12.2021, 15:58


Als ich fünf Jahre alt war, hatte ich einen großen Kummer. Ich weiß kaum, ob ich seitdem einen
größeren gehabt habe.
Das war, als meine Großmutter starb. Bis dahin hatte sie jeden Tag auf dem Ecksofa gesessen und
Märchen erzählt. Ich weiß es nicht anders, als dass Großmutter dasaß und erzählte, vom Morgen bis
zum Abend, und wir Kinder saßen still neben ihr und hörten zu. Das war ein herrliches Leben. Es
gab keine Kinder, denen es so gut ging wie uns.
Ich erinnere mich nicht sehr viel von meiner Großmutter. Ich erinnere mich, dass sie schönes,
kreideweißes Haar hatte und dass sie sehr gebückt ging und dass sie immer dasaß und an einem
Strumpfe strickte.
Dann erinnere ich mich auch, dass sie, wenn sie ein Märchen erzählt hatte, ihre Hand auf meinen
Kopf zu legen pflegte, und dann sagte sie: “ Und das alles ist so wahr, wie dass ich dich sehe und du
mich siehst.”
Ich erinnere mich auch, dass sie schöne Lieder singen konnte; aber das tat sie nicht alle Tage. Eines
dieser Lieder handelte von einem Ritter und einer Meerjungfrau und es hatte den Kehrreim:
“ Es weht so kalt, es weht so kalt, wohl über die weite See.”
Dann entsinne ich mich eines kleinen Gebets, dass sie mich lehrte und eines Psalmverses.
Von allen den Geschichten, die sie mir erzählte, habe ich nur eine schwache, unklare Erinnerung.
Nur an eine einzige von ihnen erinnere ich mich so gut, dass ich sie erzählen könnte. Es ist eine
kleine Geschichte von Jesu Geburt.
Seht, das ist beinahe alles, was ich noch von meiner Großmutter weiß, außer dem, woran ich mich
am besten erinnere, nämlich den großen Schmerz, als sie dahinging.
Ich erinnere mich am den Morgen, an dem das Ecksofa leer stand und es ungemütlich war, zu
begreifen, wie die Stunden des Tages zu Ende gehen sollten. Dran erinnere ich mich. Das vergesse
ich nie.
Und ich erinnere mich, dass wir Kinder hingeführt wurden, um die Hand der Toten zu küssen. Und
wir hatten Angst, es zu tun, aber da sagte uns jemand, dass wir nun zum letztenmal Großmutter für
alle die Freude danken könnten, die sie uns gebracht hatte.
Und ich erinnere mich, wie Märchen und Lieder vom Hause wegfuhren, in einen langen schwarzen
Sarg gepackt, und niemals wiederkamen.
Ich erinnere mich, dass etwas aus dem Leben verschwunden war. Es war, als hätte sich die Tür zu
einer ganzen schönen, verzauberten Welt geschlossen, in der wir früher frei aus- und eingehen
durften. Und nun gab es niemand mehr, der sich darauf verstand, diese Tür zu öffnen.
Und ich erinnere mich, dass wir Kinder so allmählich lernten, mit Spielzeug und Puppen zu spielen
und zu leben wie andere Kinder auch, und da konnte es ja den Anschein haben, als vermissten wir
Großmutter nicht mehr, als erinnerten wir uns nicht mehr an sie.
Aber noch heute, nach vierzig Jahren, wie ich da sitze und die Legenden über Christus sammle, die
ich drüben im Morgenland gehört habe, wacht die kleine Geschichte von Jesu Geburt, die meine
Großmutter zu erzählen pflegte, in mir auf. Und ich bekomme Lust, sie noch einmal zu erzählen
und sie auch in meine Sammlung mit aufzunehmen.
Es war an einem Weihnachtstag, alle waren zur Kirche gefahren, außer Großmutter und mir. Ich
glaube, wir beide waren im ganzen Hause allein. Wir hatten nicht mitfahren können, weil die eine
zu jung und die andere zu alt war. Und alle beide waren wir betrübt, dass wir nicht zum
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Mettegesang fahren und die Weihnachtslichter sehen konnten. Aber wie wir so in unserer
Einsamkeit saßen, fing Großmutter zu erzählen an.
“Es war einmal ein Mann” , sagte sie, “ der in die dunkle Nacht hinausging, um sich Feuer zu
leihen. Er ging von Haus zu Haus und klopfte an. “Ihr lieben Leute, helft mir!”
sagte er. “Mein Weib hat eben ein Kindlein geboren, und ich muß Feuer anzünden, um sie und den
Kleinen zu erwärmen.”
Aber es war tiefe Nacht, so dass alle Menschen schliefen, und niemand antwortete ihm.
Der Mann ging und ging. Endlich erblickte er in weiter Ferne einen Feuerschein. Da wanderte er
dieser Richtung zu und sah, dass das Feuer im Freien brannte. Eine menge weiße Schafe lagen rings
um das Feuer und schliefen, und ein alter Hirt wachte über die Herde.
Als der Mann das Feuer leihen wollte, zu den Schafen kam, sah er, dass drei große Hunde zu Füßen
des Hirten ruhten und schliefen. Sie erwachten alle drei bei seinem Kommen und sperrten ihre
weiten Rachen auf, als ob sie bellen wollten, aber man vernahm kein Laut. Der Mann sah, dass sich
die Haare auf ihrem Rücken sträubten, er sah, wie ihre scharfen Zähne funkelnd weiß im
Feuerschein leuchteten und wie sie auf ihn losstürzten. Er fühlte, dass einer von ihnen nach seinen
Beinen schnappte und einer nach seiner Hand, und dass einer sich an seine Kehle hängte. Aber die
Kinnladen und die Zähne, mit denen die Hunde beißen wollten, gehorchten ihnen nicht, und der
Mann litt nicht den kleinsten Schaden. Nun wollte der Mann weiter gehen, um das zu finden, was er
brauchte. Aber die Schafe lagen so dicht nebeneinander, Rücken an Rücken, dass er nicht vorwärts
kommen konnte. Da stieg der Mann auf die Rücken der Tiere und wanderte über sie hin dem Feuer
zu. Und keins von den Tieren wachte auf oder regte sich.”
So weit hatte Großmutter ungestört erzählen können, aber nun konnte ich es nicht lassen, sie zu
unterbrechen. “ Warum regten sie sich nicht, Großmutter?” fragte ich. “Das wirst du nach einem
Weilchen schon erfahren”, sagte Großmutter und fuhr mit ihrer Geschichte fort.
“Als der Mann fast beim Feuer angelangt war, sah der Hirt auf. Es war ein alter, mürrischer Mann,
der unwirsch und hart gegen alle Menschen war. Und als er einen Fremden kommen sah, griff er
nach einem langen, spitzigen Stabe, den er in der Hand zu halten pflegte, wenn er seine Herde
hütete, und warf ihn nach ihm. Und der Stab fuhr zischend gerade auf den Mann los, aber ehe er ihn
traf, wich er zur Seite und sauste an ihm vorbei weit über das Feld.”
Als Großmutter so weit gekommen war, unterbrach ich sie abermals. “Großmutter, warum wollte
der Stock den Mann nicht schlagen?” Aber Großmutter ließ es sich nicht einfallen, mir zu
antworten, sondern fuhr mit ihrer Erzählung fort.
Nun kam der Mann zu dem Hirten und sagte zu ihm: “Guter Freund, hilf mir und leih mir ein wenig
Feuer. Mein Weib hat eben ein Kindlein geboren, und ich muß Feuer machen, um sie und den
Kleinen zu erwärmen.”
Der Hirt hätte am liebsten nein gesagt, aber als er daran dachte, dass die Hunde dem Manne nicht
hatten schaden können, dass die Schafe nicht vor ihm davongelaufen waren und dass sein Stab ihn
nicht fällen wollte, da wurde ihm ein wenig bange, und er wagte es nicht dem Fremden das
abzuschlagen, was er begehrte. “Nimm, soviel du brauchst”, sagte er zu dem Manne.
Aber das Feuer war beinahe ausgebrannt. Es waren keine Scheite und keine Zweige mehr übrig,
sondern nur ein großer Gluthaufen, und der Fremde hatte weder Schaufel noch Eimer, worin er die
roten Kohlen hätte tragen können.
Als der Hirt dies sah, sagte er abermals: “Nimm, soviel du brauchst!” Und er freute sich, dass der
Mann kein Feuer wegtragen konnte. Aber der Mann beugte sich hinunter, holte die Kohlen mit
bloßen Händen aus der Asche und legte sie in seinen Mantel. Und weder versengten die Kohlen
seine Hände, als er sie berührte, noch versengten sie seinen Mantel, sondern der Mann trug sie fort,
als wenn es Nüsse oder Äpfel gewesen wären.”
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Aber hier wurde die Märchenerzählerin zum dritten Mal unterbrochen. “Großmutter, warum wollte
die Kohle den Mann nicht brennen?”
“Das wirst du schon hören” , sagte Großmutter, und dann erzählte sie weiter. “Als dieser Hirt, der
ein so böser, mürrischer Man war, dies alles sah, begann er sich bei sich selbst zu wundern: “Was
kann dies für eine Nacht sein, wo die Hunde die Schafe nicht beißen, die Schafe nicht erschrecken,
die Lanze nicht tötet und das Feuer nicht brennt?” Er rief den Fremden zurück und sagte zu ihm:
“Was ist dies für eine Nacht? Und woher kommt es, dass alle Dinge dir Barmherzigkeit zeigen?”
Da sagte der Mann: “Ich kann es dir nicht sagen, wenn du selber es nicht siehst.” Und er wollte
seiner Wege gehen, um bald ein Feuer anzünden und Weib und Kind wärmen zu können. Aber da
dachte der Hirt, er wolle dem Mann nicht ganz aus dem Gesicht verlieren, bevor er erfahren hätte,
was dies alles bedeutete. Er stand auf und ging ihm nach, bis er dorthin kam, wo der Fremde
daheim war.
Da sah der Hirt, dass der Mann nicht einmal eine Hütte hatte, um darin zu wohnen, sondern er hatte
sein Weib und sein Kind in einer Berggrotte liegen, wo es nichts gab als nackte, kalte Steinwände.
Aber der Hirt dachte, dass das arme, umschuldige Kindlein vielleicht dort in der Grotte erfrieren
würde, und obgleich er ein harter Mann war, wurde er davon doch ergriffen und beschloss, dem
Kinde zu helfen. Und er löste sein Ränzel von der Schulter und nahm daraus ein weiches, weißes
Schaffell hervor. Das gab er dem fremden Mann und sagte, er möge das Kind darauf betten.
Aber in demselben Augenblick, in dem er zeigte, dass auch er barmherzig sein konnte, wurden ihm
die Augen geöffnet, und er sah, was er vorher nicht hatte sehen können, und hörte, was er vorher
nicht hatte hören können.
Er sah, dass rund um ihn ein dichter Kreis von kleinen, silberbeflügelten Englein stand. Und jedes
von ihnen hielt ein Saitenspiel in der Hand, und alle sangen sie mit lauter Stimme, dass in dieser
nacht der Heiland geboren wäre, der die Welt von ihren Sünden erlösen solle.
Da begriff er, warum in dieser nacht alle Dinge so froh waren, dass sie niemand etwas zuleide tun
wollten.
Und nicht nur rings um den Hirten waren Engel, sondern er sah sie überall. Sie saßen in der Grotte,
und sie saßen auf dem Berge, und sie flogen unter dem Himmel. Sie kamen in großen Scharen über
den Weg gegangen, und wie sie vorbeikamen, bleiben sie stehen und warfen einen Blick auf das
Kind.
Es herrschte eitel Jubel und Freude und Singen und Spiel, und das alles sah er in der dunklen Nacht,
in der er früher nichts zu gewahren vermocht hatte. Und er wurde so froh, dass seine Augen
geöffnet waren, dass er auf die Knie fiel und Gott dankte.”
Aber als Großmutter so weit gekommen war, seufzte sie und sagte: “Aber was der Hirte sah, das
können wir auch sehen, denn die Engel fliegen in jeder Weihnachtsnacht unter dem Himmel, wenn
wir sie nur zu gewahren vermögen.”
Und dann legte Großmutter ihre Hand auf meinen Kopf und sagte: “Dies sollst du dir merken, denn
es ist so wahr, wie dass ich dich sehe und du mich siehst. Nicht auf Lichter und Lampen kommt es
an, und es liegt nicht an Mond und Sonne, sondern was not tut, dass wir Augen haben, die Gottes
Herrlichkeit sehen können.”

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