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Künstler

Auf den Spuren Vincent van Gogh’s

- Teil zwei -

Ich öffnete die Augen, erhob mich ein wenig schwankend, griff meine Strohtasche und verließ den Friedhof. Am Ende des sich sanft neigenden Weges scharten sich ein paar kleine Häuser um die Kirche. Die Sonne hatte die Farben gefressen. Ich konnte durch den Kirchturm sehen, der etwas Filigranes hatte. Die Kirche war mit den Häusern verwachsen. Van Gogh war nicht verwurzelt gewesen. Er hatte an vielen Orten zu leben versucht. Aus Arles schrieb er dem Bruder vom Fieber des Südens, von der Verrücktheit der Leute dort – und sah doch nur sein fiebriges Lebensgefühl, sein “Unbehaustsein“, seine eigene Ver-rückt-heit.
Auch ich muss verrückt gewesen sein, mich unter dieser Sonne auf die Bö-schung zu setzen und eine Zeichnung anzufangen. Aber ich opferte wenigstens zwei Zeichenbögen und faltete mir eine Kopfbedeckung. Die Sonne stand hinter mir, warf meinen Schatten auf mein Zeichenblatt; mit den sich ausbreitenden Linien wurde der Schatten länger. Als von der Kirche vier Glockenschläge herüber schepperten und das Gezirp der Grashüpfer verschluckten, war meine Zeichnung fertig. Ich stand schwerfällig und taumelnd mit steifen Gliedern auf. Ich war ganz benommen. Meine Arme waren rot und heiß und der Nacken schmerzte, als sich der Ausschnitt des Kleides verschob. Ich entfaltete den Papierhut und packte meine Siebensachen zusammen. Der kurze Weg in den Ort wurde mir schwer. Ich hatte Hunger und vor allem Durst.
Die Sonne wanderte von Süden nach Westen. Noch immer war kein Wölk-chen zu sehen. Ich ging am „Café de la Gare“ vorbei zum ehemaligen „Café Ravoux“. Es nannte sich jetzt großartig Hotel–Restaurant „À van Gogh“. Ein paar leere Weingläser standen verlassen auf zwei Gartentischen. Die Fenster lagen im Schatten der Markise und waren bis zur halben Höhe mit rot-weiß ka-rierten Gardinen verhängt. Darüber stand in einem Bogen: Billard. Ich betrat das Restaurant und tauchte, aus der Helligkeit kommend, ins Dunkel. Es dauerte ein paar Minuten, bis ich die Tische und Stühle wahrnahm, das Pianoforte und den Billardtisch sah. Der Raum war halbhoch mit Holz getäfelt. Eine nackte Glühbirne mühte sich vergeblich ihn auszuleuchten. Ein schäbiges Interieur.
Ich suchte mir einen Platz am Fenster. Aus dem Hintergrund tauchte eine mürrische Frau auf. Ich bestellte mir ein Omelett und einen Salat. Die Frau ver-suchte vergeblich mir das komplette Menu anzudrehen, oder vielleicht einen Krug Landwein. Verärgert schlurfte sie schließlich zur Küche. Ich hörte das Gezeter des Wirtes. Den „Ärger des Hauses“ schmeckte ich dann aus dem lieblos zubereiteten frugalen Mahl, dem ein pleuriger Café noir folgte. Ich sagte nichts. Wie konnte sich eine Deutsche an diesem französischen Feiertag, am 8. Mai, in Frankreich beschweren.
Ich begann zu frieren, obwohl durch die offen stehende Tür die Wärme hereinkam. Der verwundete Maler trat aus dem Sonnenlicht des späten Nachmittags in den schattigen Raum. Er ging vornüber gebeugt, die Rechte griff zum Herzen. Mühsam stieg er die hölzernen Stufen zu seiner ärmlichen Dachkammer empor und legte sich erschöpft auf sein Bett. Der Wirt folgte ihm beunruhigt und benachrichtigte den Landarzt. Der alte Dr. Gachet tauchte auf und schickte später seinen Sohn, der die Nacht über bei dem Maler blieb. Am nächsten Tag kam der Bruder Theo aus Paris. Der einzige Satz, den Vincent während dieser zwei Tage heraus würgte, war: „Es ist nutzlos, dieses Elend wird mein ganzes Leben lang andauern.“ Er starb in den frühen Morgen-stunden des folgenden Tages.
Ich schreckte hoch, eine Tür war zugeschlagen. Der Wirt erschien an meinem Tisch. Ich bezahlte meine Rechnung und verzichtete darauf, mir das Sterbe-zimmer anzusehen. Ich sah es sehr deutlich: Weiß gekalkte, vom Kerzenlicht rußige Wände, ein kleines Dachfenster in der schrägen Zimmerdecke. Auf dem rohen Dielenboden ein Bett, daneben ein einfacher Tisch mit Papier, Tinte und Schreibzeug. In der Zimmerecke die Feldstaffelei, die Palette und verstreut herumliegende Farbtuben. An der Wand, mit dem Rücken zum Be-trachter, einige Keilrahmen. In diesem Zimmer war der unglückliche Maler nicht mehr. Er war in seinen Bildern und Briefen zu finden.
Einen verständnislosen Wirt zurücklassend, der mit dem Namen des inzwi-schen berühmten Malers seine Geschäfte machen wollte, trat ich auf die Place de la Mairie. Die Hitze kam wie ein feuchtes heißes Tuch über mich. Ich stand in der Sonne und fröstelte. Wie ein Blitz schoss mir der Gedanke an van Gogh’s provancalische Sonnen durch den Kopf. Der immer noch leere Platz begann sich zu drehen, als ich ihn überquerte. Ich lehnte mich an ein hölzernes Staket, meine Hände umklammerten das Holz. Ich schloss die Augen. Es ging mir miserabel. Ich versuchte tief durchzuatmen und ging langsam zum Bahnhof. Der nächste Zug nach Pontoise würde in einer Stunde fahren. Van Gogh hatte immer seinen eigenen Schädel gehabt – ich hatte ihn auch und setzte mich auf die Schwelle der offenen Tür des Warteraums. Ich zeichnete ein zweites Mal „seine“ Kirche. Der Turm kletterte aus dem Gewirr der Dächer heraus und stand bleich wie ein Totenschädel vor dem Himmel, der sich einschwärzte.
Als ich endlich im klapprigen Zug nach Pontoise saß und dort in den komfor-tableren Zug nach Paris umgestiegen war, begannen meine Zähne aufeinander zu schlagen. Ich bekam Schüttelfrost. Am nächsten Tag zierten weiße Blasen Dekolleté und Arme.
Die Sonne kann beides bringen: Leben und Tod. Van Gogh hatte sie in einen Farbenrausch versetzt und vielleicht seinen Wahnsinn ausgelöst – ich hätte einen Sonnenstich bekommen können.

Elke Tegtmeyer 

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