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Die Frau an seiner Seite

„Dem Herrn will ich dienen alle Tage meines Lebens“. Dieser Spruch über Annas Bett hatte mich seit eh und je mit einer gewissen Ehrfurcht erfüllt. Im Laufe der Jahre allerdings verflog diese Ehrfurcht, denn ich gewann immer mehr Einblick in Annas und Karls Alltag und machte mir so meine eigenen Gedanken.

Fünfundfünfzig Jahre waren vergangen, seitdem der Vater bestimmt hatte, welchen Beruf Anna ergreifen sollte, so wie er das für jedes seiner sieben Kinder bestimmt hatte. Und Karl sollte Priester werden.
„Und Du Anna wirst Karl den Haushalt führen und dafür Sorge tragen, dass ihm keine Frau zu nahe kommt!“ Das wurde für Anna die Aufgabe ihres Lebens.

Nach der Priesterweihe zog Karl mit Anna in die ihm vom Bistum zugewiesene Wohnung. Er war ein guter Priester und Anna ihm eine ebenso gute und eifrige Haushälterin. Aber wie das so ist, nutzt sich im Laufe der Zeit so einiges ab. Priester und Haushälterin, die Geschwister, gerieten häufig in Streit. Oft ging es nur um Bagatellen. Aber er war der Herr im Haus und sie gewissermaßen seine Dienerin.
Obwohl Anna sich im Haushalt und in allen Bereichen der Pfarre Mühe gab, war sie nicht immer glücklich. Manchmal zweifelte sie an ihrer Berufung und überlegte, wie anders doch ihr Leben hätte verlaufen können. Aber sie hielt durch und schluckte Vieles in sich hinein, all die Jahre lang.
Über den wahren Seelenzustand Karls wurde nichts bekannt, außer dass er sich in seinen letzten Lebensjahren für den Buddhismus interessierte.
Samstagnachmittags verbrachte er viele Stunden im Beichtstuhl und war froh, wenn er endlich den letzten Sünder - die letzte Sünderin - entlassen konnte. Aber an einem Samstagabend wartete Anna mit dem Abendessen vergeblich auf Karl. Da klingelte der Küster und berichtete aufgeregt, er habe den Pfarrer leblos auf seiner Bank im Beichtstuhl gefunden. Anna erschrak und geriet in helle Aufregung. „Sofort muss der Arzt her!“ schrie sie. Der stellte einen plötzlichen Herzstillstand fest und schüttelte bedauernd den Kopf.
Böse Zungen behaupteten später, ein Sünder habe Karl Unglaubliches erzählt, wonach er ihm die Absolution hatte verweigern müssen, was zu seinem Tod geführt habe.

Am Abend vor der Beerdigung wollte Anna Karl unbedingt noch einmal sehen. Gemeinsam mit Bruder Hannes und Schwester Marlene begab sie sich zur Leichenhalle, wo Karl im offenen Sarg aufgebahrt lag. Karl lag da, wie friedlich schlafend, unter einem weißen Laken. Nur seine Füße ragten heraus. Karl war nämlich ein großer Mann. Anna fixierte gebannt sein stilles Gesicht. Ob er wirklich tot ist, dachte sie. Es könnte ja sein, dass er nur scheintot ist. Wie oft hatte sie von Menschen gehört, die bereits im Sarg lagen, obwohl sie nicht wirklich tot waren. Von einigen hieß es sogar, man habe später festgestellt, dass sich der vermeintlich Tote im Sarg noch einmal umgedreht habe. Welch grauenvolle Vorstellung, wenn auch Karl nur scheintot wäre. Anna öffnete ihre Handtasche und wuselte darin herum. Und endlich fand sie, was sie suchte. Eine Sicherheitsnadel. Und während ihr Blick starr auf Karls bleichem Gesicht ruhte, stach sie die Nadel in seinen dicken Zeh. In stummer Würde ertrug Karl diesen letzten Stich - und Anna bekreuzigte sich.

Autor: fleurbleue

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