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Das Kunstwerk das verschwand

Er stand in der Ecke des Therapiezentrums und erregte meine Aufmerksamkeit. Ich musste ihn unbedingt aus der Nähe betrachten und wollte natürlich auch seine knöcherne Hand in berühren. „Ja, das ist unser Ossi“, lachte die Sprechstundenhilfe und zwinkerte vielsagend mit den Augen, wobei mir sofort die Doppelbedeutung des Wortes klar war.

„Os“ ist Lateinisch und bedeutet Knochen“, belehrte sie mich.

„Naja ‚Os‘ kenne ich auch aus dem Französischen“, grinste ich.

Doch beim Anblick dieses Skeletts fiel mir schlagartig eine alte Geschichte ein:

Vielleicht lag es ja an Gittas heiterem Naturell, dass sie mir in der Schule mehr und mehr zur Freundin wurde. Auch weil ihr oft irgendwelche Streiche einfielen, die sie unbedingt umsetzen wollte. Obwohl ich eher schüchtern war, gelang es ihr manchmal, mich mit ihren Ideen anzustecken. Und nun hatte sie mal wieder eine Wahnsinnsidee.

Unser Heimweg führte vorbei an einem Kloster, das zum Teil abgerissen war aber noch immer in Schutt und Asche lag. Nur die Außenmauern mit den glaslosen Fensteröffnungen waren stehen geblieben.

„Stell dir mal in einem Fenster da oben ein baumelndes Gerippe vor“, kicherte Gitta. „So ein Skelett wie uns die Mayer im Naturkunde-Unterricht vorgeführt hat. Was meinst du, was das hier einen Auflauf gäbe. Die Leute würden sich glatt die Hälse verrenken.“

Ich sah bereits die entsetzten Gesichter der Passanten vor mir und musste lachen. Die Idee war einfach genial.

Wir organisierten also einen Riesenbogen Packpapier und rotes Transparentpapier. Auf dieses Papier zeichneten wir mit größter Sorgfalt ein lebensgroßes Gerippe mit Augenhöhlen und Zähnen in einem riesigen Kiefer. Rechts und links an der Wirbelsäule entstanden die einzelnen Rippen, und von den Beckenknochen baumelten lange Beinknochen herab.

Das alles sollte dem Skelett aus dem Naturkunde-Unterricht möglichst ähnlich sein. Zum Schluss wurden Augenhöhlen, Kiefer und Rippenzwischenräume ausgeschnitten und auf die Rückseite das rote Transparentpapier geklebt.

Am nächsten Morgen trafen wir uns eine halbe Stunde früher und zogen mit unserem Schatz unterm Arm zum Kloster.

Es war relativ einfach, durch den zerstörten Eingang ins Innere der Klosterkirche zu gelangen, wo Altar und Bänke noch immer unter dem Schutt begraben lagen. Der Trümmerberg reichte bis an die Fenster heran, sodass wir problemlos hochklettern konnten.

Gitta hatte ein kleines Loch in den Schädel des Gerippes gebohrt, zog nun den Bindfaden hindurch und band ihn um den Rest eines Fensterkreuzes.

Als wir wieder auf der Straße standen, betrachteten wir das im Wind leicht baumelnde Gerippe und spielten die ersten entsetzt hochblickenden Passanten. Auf diese Weise wurden auch andere aufmerksam, blieben stehen und schüttelten verständnislos die Köpfe.

Auch noch am nächsten Tag konnten wir unser Werk bewundern. Aber dann war das makabre Kunstwerk plötzlich verschwunden. Wahrscheinlich hatte ein pietätvoller Mensch es im Müll zur letzten Ruhe gebettet oder der Wind hatte es entführt und in einer Baumkrone aufgehängt.

Autor: fleurbleue

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