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Der Besuch

Das Kind (der Enkel) ist ein schönes Kind. Es wird geliebt, vorbildlich versorgt von seiner Mutter, einer Marketingmanagerin im Mutterschaftsjahr und dem Vater, ein Diplomkaufmann, welcher nach zwei Jahrzehnten Versicherungswesen nun selbstständig ist. Ihre Wohnung im Süden der Großstadt ist stimmig eingerichtet.

Verwundert betrachtet Else ihren ältesten Sohn, des Enkels Vater. Er deckt sorgsam den Tisch und die junge Mutter stillt unterdessen drei Zimmer entfernt ihr Kind. Später genießen sie zusammen eine Gemüsepizza samt einem trockenen Roten. Die Stillende labt sich vorbildlich an Lautretana, dem leichtesten Wasser Europas.

Leon befüllt die Spülmaschine, stellt hübsche weiße bauchige Kaffeetassen auf den rustikalen rechteckigen Holzesstisch. Der Kuchen nett platziert, lecker schokoladig und er spricht über die Zukunft. Wieviel Zukunft bleibt Else eigentlich noch?

Das schöne Kind ist nun satt. Seine Mutter wiegt es zärtlich im Arm, sie ist eine fantastische Person. Mit lässiger Leichtigkeit zähmte sie Elses zugegeben früher notorischen Frauenheldensohn, gutaussehend, samt Porsche plus sattem Gehalt. Ihre Schwangerschaft war ein Genuss und die Geburt unproblematisch. Einen guten Geschmack hat sie ebenfalls, nicht nur wegen des Erstgeborenen, sondern ihre kreative Ader prägt fast die gesamten Räume: unaufdringlich, edel, witzig, praktisch, originell. Geschickt platziert sie Modernes neben antiken Schätzchen und verleiht dem Betrachter ein gewisses Wohlgefühl.

Beim Abschiedsbussi auf die rechte Wange von Leon spürt Else den Hauch des zu schnellen Entfernens.

Else ist nun allein in der Großstadt. Sie spricht zwar die Sprache, die man hier versteht und kann sich auch mühelos einen Cortado bestellen, bleibt aber dennoch die Älteste unter all diesen Mittelalten.
„Das mittlere Alter ist oberflächlich genug, um in solch Metropolen zu nisten.“ sinniert Else und rettet sich derweil vor diesen allzu eiligen Radfahrern mitten auf den Gehsteigen. Es regiert allenthalben die Hast. womöglich etwas mega Wichtiges zu versäumen. Sie bestaunt pfiffig dekorierte Auslagen, welche ihr Begehren nähren, dies oder jenes zu besitzen, von denen sie gestern noch nicht wusste, dass es sowas überhaupt gibt. Sie durchforstet unermüdlich spezielle Läden, stets auf der Suche nach gewissen Dingen, die vor ihr noch niemand besaß.

Am nächsten Tag trifft sie sich mich mit ihren "Mädels" Doris, Luce und Sandra in der angrenzenden Kleinstadt, in der sie damals ihre mittleren Jahre verbrachten. Diese ist nicht weit entfernt von der Big City, wo Sohnemann sein Zelt aufgeschlagen hat. Jedoch profitiert die Kleinstadt wegen ihrer Nähe zu dieser, zumindest was die Mieten betrifft. Ansonsten hat sie wenig Reiz, plumpe Neubauten, hässliche Betonklötze, kaum Grünblick, doch Shopping Malls, die quirliges Treiben vortäuschen. Natürlich gibt's da auch eine Eisdiele, sowie Döner direkt vom Grill und einen Aldi Süd.

Sie aber steuern gezielt zu Luigi (den dritten inzwischen) und bestellen wie gewohnt Spaghetti à la Casa, nicht ohne Luigis legendären Frescobaldi zu verkosten. Das schnuckelige Lokal befindet sich tatsächlich immer noch in dieser kleinen Gasse, schräg gegenüber von der griechischen Änderungsschneiderei. So etwa fühlt sich Heimat an.
Sie studieren derweil nicht nur ihre Garderobe, sondern sehr geschickt aus den Augenwinkeln, auch worüber man nicht spricht. Bemerken voller Genugtuung diverse Gebrauchsspuren, an Mundwinkeln und Hälsen und tauschen lebhaft Erinnerungen aus. Ein klein wenig erschrocken fällt ihnen auf, dass sehr wohl im mittleren Alter der erste Lack schon zu bröckeln begann, jedoch sämtliche Synapsen noch voll auf Sendung waren.

Seufz, wie lange mag es wohl noch dauern, bis keine Zeit der Welt mehr für sie zählt?

Städttebild

Autor: galen

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