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WELT am SONNTAG

Wer nimmt Oma diesmal?

Bekannte Hamburger Autoren schreiben für WELT am SONNTAG vier Geschichten zum Advent: Zum Auftakt eine Satire von Hans Scheibner

Ende November hatte Frau Katharina Beerbaum, 78 Jahre alt, ein interessantes Erlebnis. Es läutete - und vor der Tür stand ihre 75 Jahre alte Nachbarin aus dem dritten Stock, Frau Mathilde Maltzahn. Bis zu diesem Tage waren die beiden alten Damen einfach nur gute Nachbarinnen gewesen, weiter nichts. Wie das so läuft: man begegnete sich mal im Treppenhaus, hielt sich die Tür auf, schimpfte gemeinsam übers Wetter - aber sonst wusste man kaum etwas voneinander. Und nun dies: Frau Mathilde Maltzahn machte Frau Katharina Beerbaum ein Angebot. Das Angebot nämlich, mit ihr zusammen dieses Weihnachtsfest auf Mallorca zu verbringen.

"Ich habe eine Wohnung auf Mallorca geerbt", erzählte die Maltzahn mit geröteten Wangen. "Von meinem verstorbenen Schwager. Ich möchte so gern dorthin - aber ich habe niemanden, der mich nach Mallorca begleiten könnte. Sie wissen ja, dass mein Mann schon vor fünf Jahren gestorben ist.

Meine Kinder haben kein Interesse - und ich weiß einfach niemanden. Und weil Sie und ich uns immer so nett guten Tag sagen, habe ich gedacht: Fragen kannst du ja mal. Hätten Sie Lust - ich lade Sie ein, Frau Beerbaum." - Katharina Beerbaum schluckte erst mal, wusste gar nicht, was sie sagen sollte. Das war ja nun wirklich sehr sehr nett von ihrer Nachbarin gedacht. Und dann auch: Mallorca, davon hatte sie eigentlich lange schon mal geträumt. Aber Weihnachten - nein, nein, das war doch unmöglich. Da musste sie doch unbedingt zu einem von ihren Kindern. Denn das wäre doch geradezu eine Kränkung, wenn sie die einfach Heilig Abend allein lassen würde!

Obwohl - so dachte sie heimlich bei sich - obwohl es ja letztes Jahr doch eigentlich sehr ungemütlich gewesen war bei Jessica und Manfred. Da hatte sie manchmal das Gefühl gehabt, immer irgendwie im Wege zu sein.

Die hatten ja nicht mal geregelte Zeiten für die Mahlzeiten. Mittag aßen sie nachmittags um vier, Kaffeetrinken gab's überhaupt nicht - und dann war sie auch noch mitleidig belächelt worden, weil sie so gerne im Fernsehen den Sissy-Film sehen wollte (also diesmal Sissy als Kaiserin). Außerdem: Jessica und ihr Sohn Klaus hatten bis heute noch nicht angerufen, um sie zu Weihnachten einzuladen. Trotzdem - sie musste vernünftig sein; "Ich bin ganz gerührt von Ihrem Angebot, Frau Maltzahn", sagte sie, "aber das kann ich meinen Kindern einfach nicht antun. Die wären mir für ewig böse. Ohne dass wir unterm Tannenbaum zusammen sind, können die sich Heilig Abend gar nicht vorstellen..."

Jetzt aber, ganz genau um diese Zeit spielte sich folgender Dialog zwischen Frau Beerbaums Sohn Klaus, selbstständiger Speiseöl-Importeur und dessen Frau Inge ab: "Lässt dich da noch irgendwas bewerkstelligen mit meiner Mutter diesen Weihnachten?" - "Was heißt denn bewerkstelligen? Wir müssen sie nehmen. Da führt kein Weg dran vorbei. Deine Hass-Schwester Jessica hat sich vorigen Weihnachten geopfert, wie sie wieder mal so richtig vorwurfsvoll gesagt hat. Diesmal sind wir dran."

"Ja, ja, ich weiß - aber wo lassen wir die Alte denn am ersten Weihnachtstag? Wir können sie doch nicht bei uns mit am Tisch haben, wenn Hegemanns kommen. Meine Mutter ist doch schon völlig vergreist. Du weißt, wie wichtig Hegemanns für unsere Zukunft sind." - "Sie ist nicht meine Mutter, Klaus. Du kannst ja ganz lieb sein und deine geliebte Schwester fragen." - "Jessica? Eher beiß ich mir die Zunge ab. Ich werde einfach Mutter fragen, ob sie nicht diesen Weihnachten noch einmal zu Jessica will. Lass mich mal machen."

Viel kürzer und fröhlicher war das Gespräch, das sich in eben diesen ersten Novembertagen zwischen Jessica und ihrem Mann Manfred ereignete: "Was ist mit Weihnachten, Jessi?" Die Frage kam bedeutungsvoll aber mit drohendem Unterton von Manfred. "Was soll sein, Schatz?" Jessica sortierte gerade die Kleider im Kleiderschrank. "Dies Jahr haben wir omafrei. Klaus muss sie nehmen."

"Ich kann mein Glück kaum fassen. Das kann ja ein richtig harmonisches Weihnachten werden."

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Inzwischen spukte Frau Katharina Beerbaum Mallorca im Kopf herum. Mallorca! Eigentlich war es gar nicht so sehr die Aussicht auf ein paar Tage in wärmeren Gefilden. Nein - aber dass ein eigentlich doch wildfremder Mensch plötzlich auf den Gedanken gekommen war, sie einzuladen, das war doch irgendwie ein schönes Gefühl - und so ganz ungewohnt. Wie lange hatte sie so etwas schon nicht mehr erlebt.

Dann aber war doch der Anruf von Klaus gekommen. Ihr Herz schlug ja immer noch höher, wenn sie die Stimme ihres erstgeborenen Sohnes hörte. Er hatte es schließlich zu etwas gebracht. Sein eigenes Haus in Sasel - jedes Mal verschlug es Frau Beerbaum fast die Sprache, wenn sie ihn mal besuchen kam. Und auch wenn Kai-Uwe, ihr verstorbener Mann, bis zuletzt immer gesagt hatte: Er denkt an nichts anderes als an sein Anlagen- und Bankkonto, er ist ein lebendig toter Finanzmensch - sie war trotzdem stolz auf ihn.

Also Klaus hatte angerufen und gesagt:

"Ich wollte nur mal fragen - wegen Weihnachten, Mutter, äh..." - "Ja, ja", sagte Frau Beerbaum, "das ist nett, dass du anrufst. Ich wollte dir nämlich auch etwas erzählen..." - "Bin ich richtig informiert, Mutter?", fragte Klaus. "Du bist doch wieder bei Jessica oder?" - "Bei Jessica?", fragte die alte Katharina überrascht. "Wie kommst du denn darauf?" - "Ach so, ich dachte das nur. Na ja, macht ja auch nichts. Dann kommst du eben zu uns. Das kriegen wir schon hin. Wir haben zwar Gäste am ersten Weihnachtstag - aber da störst du ja nicht." - Irgend etwas gab Frau Beerbaum einen kleinen Stich ins Herz. Sie wusste selbst nicht, warum sie so schnell antwortete. Auf jeden Fall hörte sie sich sagen: "Ja, ja, ist klar. Ich bin diesmal wieder bei Jessica. Macht dir doch nichts aus - oder?" - "Ach, weißt du", sagte Klaus plötzlich ganz gelöst und heiter, "Weihnachten ohne dich ist natürlich nur halb so schön. Aber ist schon in Ordnung. Gehst du eben noch mal zu Jessica."

Frau Beerbaum musste sich eine Träne abwischen als Klaus wieder aufgelegt hatte. Über Jessica machte sie sich erst gar keine Illusionen. Und als die dann anrief, kam nur das, was Frau Beerbaum schon erwartet hatte.

"Weihnachten bist du ja nun diesmal bei deinem geliebten Klaus, nicht wahr?" - "Ja," sagte Frau Beerbaum "und der freut sich schon sehr auf mich." - "Na schön. Du weißt, bei uns bist du immer gern gesehen." - "Ja, oder soll ich dann lieber diesmal doch wieder zu euch kommen, meine Jessica?" - "Äh ja, ja, äh... wenn du unbedingt möchtest. Aber ehrlich gesagt: Klaus ist doch dran. Soll der sich diesmal... ich meine: Wenn er sich schon so furchtbar auf dich freut." - "Ist schon gut, Jessi. War ja auch nur so eine Idee von mir."

Ziemlich bitter, diese Erkenntnis für sie. Aber sie hatte begriffen: Ich bin eine Last für meine Kinder. Und im Grunde weiß ich das ja auch schon lange.

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Drei Tage brauchte Frau Katharina Beerbaum, 78, um diese Erkenntnis zu verarbeiten. Dann läutete sie bei Frau Maltzahn. "Ich bin bereit. Wenn Ihre Einladung noch steht, komme ich mit!" - Die beiden alten Damen verputzten fast eine ganze Flasche Eierlikör auf das Ereignis: Auf nach Mallorca! Mit einer sozusagen wildfremden Frau, mit der Nachbarin Mathilde Maltzahn. Seltsam: das tat gleichzeitig weh und gut. Gut die Einsicht: alles ist besser, als den eigenen Kindern zur Last zu fallen. Geplanter Abflug nach Mallorca war am 23. Dezember vormittags.

Bis dahin passierte praktisch gar nichts mehr. Mindestens zwanzig Mal hatte Katharina zwar den Hörer schon abgehoben, um erst Klaus und dann Jessica Bescheid zu geben - aber immer wieder legte sie auf. Sie hatte in jeder Beziehung Angst vor deren Reaktion: entweder wären sie empört gewesen, dass ihre Mutter es wagen konnte, Weihnachten nicht bei einem ihrer Kinder zu verbringen - oder sie hätte wieder deren Erleichterung herausgehört - "Eine gute Idee, Oma. Tu ruhig mal was für dich selbst." Und also rief sie nicht an. Nein! - sie rief nicht an!

Und dann kam das Drama. Heilig Abend, kurz nach 19 Uhr hatte Klaus Beerbaum das Gefühl, er müsse wohl seine Mutter doch mal anrufen - sozusagen: Gewissenserleichterung. Die Kinder hatten wiederholt gefragt, ob Oma denn wenigstens am Zweiten Weihnachtstag käme. Also überwand er sich und rief seine Schwester an. Das übliche Frohe-Weihnacht-Geplänkel und dann: "Hattet ihr schon Bescherung? Kann ich Mutter mal sprechen?" - "Mutter? Die ist doch bei euch!" - "Was ist das? Aber nein, sie hat mir gesagt, dass sie wieder bei euch ist!" - "Ach nein! Bei uns? Hast du sie etwa ausgeladen?" - "Quatsch, ich habe nur gesagt... Sie ist nicht bei euch? Verdammt noch mal, wo ist sie denn? - Hörst du noch? Bist du noch dran?!" Ein Seufzen von Jessica in der Leitung. "Allein zu Hause, nehm ich an..." -

Aber zu Hause nahm niemand ab. Einen Anrufbeantworter hatte Frau Beerbaum ja sowieso nicht. Jetzt wurde es Klaus zu ungemütlich. Noch einmal rief er seine Schwester an. "Sie nimmt nicht ab. Hat sie irgendetwas gesagt, wohin sie geht..." - Jessica bekam einen Wutanfall: "Was hast du mit meiner Mutter gemacht?! Du Egoist, du kriegst es fertig, sie Heilig Abend allein zu lassen. Geh zum Teufel. Ich fahre hin!"

Eine halbe Stunde später trafen sie im Treppenhaus ihrer Mutter zusammen. Am liebsten hätte Jessica ihren Kotzbrocken von Bruder gleich zur Schnecke gemacht - aber erst mal wurde geläutet. Natürlich vergeblich. Und dann - Jessica hatte schon immer einen Hang zur Panik - dann wurde es erst richtig dramatisch. "Ich rieche Gas!", jammerte Jessica. "Sie hat sich umgebracht." Um es kurz zu machen: Die Feuerwehrleute waren auch nicht so besonders begeistert: Heilig Abend Einsatz. Gasgeruch Albertinenstraße 18. Die Tür wurde aufgebrochen. Aber von Gas war nichts mehr zu riechen - gar nichts. Doch auf dem Wohnzimmertisch lag ein Prospekt:

Mallorca, die Balearen. Und daneben eine Telefon-Nummer mit spanischer Vorwahl...

"Hallo, wer ist da?", fragte die wohl bekannte Stimme. "Mutter, um Gottes willen, wo bist du?"

"Auf Mallorca. Pagera. Wunderschön hier. Habt ihr etwa Schnee zu Hause? Hier ist es zwanzig Grad warm, ich will gleich zur Strandterrasse, gebackene Sardinen und Rotwein von der Insel. Wir haben auch einen Weihnachtsbaum!"

"Ja bist du denn verrückt geworden!", rief Jessica in den Hörer. "Wir sterben hier fast vor Angst, weil du nicht da bist. Bei uns nicht und bei Klaus auch nicht. Wir haben gedacht, du hast dich umgebracht!"

"Umgebracht? Warum denn? Etwa euretwegen? Nur weil ihr mich hin- und herschubsen wollt - Wer nimmt Oma diesmal? Ach, nein, meine Lieben. Das ist gar nicht so schlimm für mich. Fröhliche Weihnachten. Und feiert man schön."

Das halbe Haus war zusammengelaufen wegen der Feuerwehr. Die ließ durchblicken, dass der Spaß ganz schön teuer würde. Aber Jessica und Klaus waren sich in einem Punkte einig: "Die alten Leute heutzutage sind einfach rücksichtslose Egoisten. In was für einer Welt leben wir eigentlich!!"

Nächste Woche lesen Sie zum 2. Advent "Weihnachten mit Thomas Müller" von Karen Duve

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