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Darf ich bitten, Herr Professor?

Ich lag mit einer OP im Krankenhaus in einem 2-Bett-Zimmer, aber dieses Bett war frei. Die Schwester kam zu mir und fragte, ob sie eine alte Dame zu mir legen darf, da sie in keines der anderen Zimmer passt und dort sehr unglücklich ist. Sie sei 92 Jahre alt und bei mir könne sie sich das gut vorstellen. „Selbstverständlich“ sagte ich, „ich bin erstaunt, dass Sie überhaupt fragen.“ Sie brachte Frau G., die sich freundlich bei mir vorstellte, sie legte sich mit einem wunderschönen Spitzenachthemd in das freie Bett und nahm ein Buch in die Hand, in das sie sich vertiefte. Oft schaute sie zu mir herüber und fragte, ob ich auch so gern lese. Und so kamen wir ins Gespräch über Literatur, sie las gerade Simone de Beauvoir: „Das andere Geschlecht“.
Am nächsten Morgen saß sie in einem schicken Morgenrock, gewaschen und frisiert auf der Bettkante, als es klopfte. Die Tür ging auf und der Herr Professor kam mit seinem ganzen Stab von Ärzten zur Visite. Frau G. war etwas überrascht und sagte freundlich aber bestimmt: „Bitte Herr Professor, warten Sie draußen, bis ich Sie rufe, ich muss erst meinen anderen Morgenrock anziehen.“ Alle drehten sich um, verließen den Raum, bis Frau G. soweit war und laut sagte: „Bitte Herr Professor treten sie ein.“ Die Tür ging wieder auf und das ganze Team trat an ihr Bett, auf dem sie in einem roten mit Rüschen besetzten Morgenrock würdevoll saß, als hätte sie um eine Audienz gebeten. Ich war sprachlos.

Später fragte sie, ob ich verheiratet sei, ich verneinte und sie sagte, ihre Lebensgefährtin, mit der sie 50 Jahre zusammen gelebt hat, wäre vor 2 Jahren verstorben. Sie erzählte über ihre Zeit in Künstlerkreisen in den 20er und 30er Jahren. Sie malt und hat mit 80 Jahren eine Ausbildung zur Bildhauerin gemacht. Sie lud mich ein, sie einmal in ihrem Atelier am Kurfürstendamm zu besuchen.

Am nächsten Tag wurde sie entlassen. Sie war etwas aufgeregt, nahm sich Wäsche und Kleidung aus dem Schrank und ging zum Waschbecken, ohne den Vorhang zu schließen. Sie zog sich ganz aus, wusch sich und begann, sich anzukleiden. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr raus. Höschen und BH in schwarz-rot mit feinster Spitze, einen entzückenden Strumpfhalter und Nylonstrümpfe mit Naht. Dabei stellte sie den Fuß auf den Hocker, zog die Strümpfe elegant nach oben und befestigte sie. Sie fragte mich, ob die Naht auch richtig sitzt.

Ich sah diesen uralten mageren Körper mit großer Rührung und wie sie diesen mit einer solchen Würde bekleidete, als hätte sie nie etwas anderes getan. Dazu kam ein sündhaft teures Kostüm eine schicke Bluse und Absatzschuhe. Sie verabschiedete sich von mir, gab mir ihre Adresse und bedankte sich für die Zeit mit mir. Noch nie habe ich einen Menschen so bewundert. Sie war durch und durch eine Dame.

Bei meinem Besuch später öffnete sie mir in einem Abendkleid, ich wollte ins offene Wohnzimmer gehen, aber sie sagte: „Wir gehen erst in den Salon auf einen Aperitif.“ Dann zeigte sie mir ihr Atelier mit fantastischen Skulpturen und vielen Gemälden.

Was für eine Frau! Ich war voller Hochachtung und Bewunderung und fühlte mich ein wenig aus der Zeit gefallen.

Autor: Feierabend-Mitglied

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