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Die Lehrerin Frl. Petronella L.

Von Feierabend-Mitglied Dienstag 30.04.2024, 12:54

Die Lehrerin Frl. Petronella L.

Nach den Osterferien 1954 wurde ich in die erste Klasse der
Volksschule eingeschult. Unsere Klassenlehrerin war
die Lehrerin Frl. Petronella L. Sie legte Wert darauf
Fräulein L. genannt zu werden. Sie war 59 Jahre alt und das
Schuljahr 1954/1955 sollte ihr letztes Jahr vor der Pensionierung werden.

1928, in ihrem ersten Jahr als fest angestellte, beamtete
Lehrerin übernahm sie auch die Erstklässler. Unter ihnen befand
sich mein Vater. So schloß sich also der Kreis ihres
beruflichen Lebens, beginnend mit der Klasse meines Vaters,
beendend mit meiner Klasse.

Frl. L. war etwas wunderlich und eigenartig. Während des
Unterrichts trug sie stets weiße Baumwollhandschuhe. Sie war
leicht erregbar und, wenn sie sich über einen Schüler ärgerte,
schlug sie mit einem Lineal krachend auf das Pult, aber
niemals, wie es damals durchaus noch üblich war, ein Kind.

Manchmal zog sie ihre Handschuhe für einen Moment aus, nahm aus
ihrer Handtasche eine Dose mit einer Creme und cremte ihre
Hände ein. Diese waren krebsrot und voller Narben, wie von
einem Brand.

Ich war etwa 12 oder 13 Jahre alt, da sah ich mal wieder meine
alte Lehrerin bei ihrem Spaziergang Richtung Wald. Sie trug
immer noch ihre weißen Baumwollhandschuhe. Aber am
verwunderlichsten war, daß sie mit den Armen gestikulierend und
halblaut vor sich hin murmelnd mit gesenktem Kopf dahin lief.

Zuhause erzählte ich meine Begegnung meinem Vater und sagte
lachend, die wird immer verrückter, die Alte. Mein Vater nahm
mich beiseite. "Laß uns bisschen rausgehen", sagte er. Und:
"Ich will nie wieder so etwas von dir hören und ich sag dir auch warum."

1940 kam die Anordnung, daß von Beginn des neuen Schuljahres an
in den Klassenzimmern die Kruzifixe abzuhängen und ein
Führerbild aufzuhängen sei. Frl. L. weigerte sich und soll im
Lehrerzimmer gesagt haben: „In meiner Klasse wird der Herrgott
nicht gegen diesen Kerl ausgetauscht!" Ein eifriger Junglehrer
und Parteigenosse zeigt sie an. Im Oktober 1940 wurde sie in
das KZ Ravensbrück eingeliefert. Sie arbeitete dort als
Desinfektorin, das bedeutet, daß sie permanent die
Barackenwände kalken mußte. Dort hat sie sich auch am
ungelöschten Kalk die Hände ruiniert, denn Handschuhe gab es
nicht für die Häftlinge. Vier Jahre und sechs Monate war sie in
dieser Hölle gefangen. Im April 1945 wurde das Lager befreit
und sie kam nach Hause, krank an Leib und Seele. Zwei Jahre
hat sie sich erholt und wieder aufgepäppelt.

Mit Beginn des neuen Schuljahres 1947 nahm sie ihren Dienst
wieder auf. Außer dem, was mein Papa mir erzählt hat, habe ich
nie jemanden über das Schicksal der Frl. Petronella L.
sprechen hören.

1976 ist sie im Alter von 81 Jahren verstorben. Da sie keine
Angehörigen hatte, bekam sie ein Gemeindegrab, das 2006 nach 30
Jahren entfernt wurde. Kein Gedenkstein, keine Plakette,
nichts erinnert an sie. Nach meiner Generation wird sich
niemand mehr an diese tapfere Frau erinnern. Deshalb habe ich
ihre Geschichte aufgeschrieben und im Gemeindeblatt meines
Heimatdorfes veröffentlicht. Die Reaktion war erstaunlich. Muß man
denn das wieder rauszerren? Das ist über 50 Jahre her.
Ich denke man muß, heute wichtiger denn je.

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