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Wie viel Trauer ist erlaubt ?

Von ehemaliges Mitglied Mittwoch 29.04.2020, 15:33

Traurigkeit jagt Angst ein wie eine ansteckende Krankheit

Am Grund jeder Trauer liegt das Eingeständnis der eigenen Ohnmacht - kein Wunder, dass sie uns heutigen Immermächtigen suspekt ist.

Außer Kindern weint bei uns selten jemand auf der Straße. Man weint zu Hause, auf dem Klo und auf dem Friedhof. Man vergisst es, bis man in einer Zeitungsmeldung liest, dass Psychiater darüber diskutieren, wann Trauer krankhaft ist. In der neuen internationalen Klassifikation von Krankheiten, die 2022 in Kraft tritt, wird die "Anhaltende Trauerstörung" verzeichnet sein. Wer länger als ein halbes Jahr mit Symptomen trauert, die "deutlich stärker sind als die bei normalen Trauerprozessen", kann dann als behandlungsbedürftig gelten. Man vergisst es, bis eine Pandemie das solziale Leben ausschaltet und man plötzlich Menschen sagen hört, sie seien traurig in ihrer Abgeschottetheit.
Wie viel Trauer ist erlaubt ? Wer darf traurig sein ? Und was ist es wert, betrauert zu werden ?

Kinder stehen da an einer interessanten Stelle mit ihrer teils domestizierten, teils ursprünglichen Traurigkeit. Vielleicht weil sie in der Gewissheit leben, dass es Erwachsene gibt, die sie trösten. Kindern ist aber auch die Furcht fern, vor Traurigkeit ins Bodenlose zu fallen. Sie kippen hinein, um ebenso plötzlich wieder herauszusteigen. Traurigkeit ist ein gesellschaftlich unerwünschtes Gefühl. Sie werden mit Trost zugekleistert; "Das geht vorbei", "Sieh mal positiv", ein Wisch und Weg der Fröhlichkeit.

Traurig zu sein, ist ein Zustand, den weder Außenstehende noch diejenigen, die er befällt, gut aushalten können. Wie auch, in einer Gesellschaft, die sich das Glücklichsein verordnet hat ? Stets gilt es, konstruktiv zu denken, Krisen als Chance zu betrachten, ja sogar Krankheiten einen Sinn abzugewinnen. Wo Traurigkeit pathologisiert wird, gilt schnell auch derjenige als klinisch krank, der lediglich einen Verlust betrauert, den eines Menschen, einer Liebe, eines Arbeitsplatzes, vielleicht auch nur einer Idee von sich selbst.

Traurigkeit entzieht sich auch unserer Kontrolle, und wer sie erlebt, geht notwendigerweise verändert daraus hervor. Vielleicht ist deshalb der Begriff "Trauerarbeit" so beliebt, weil er aus ihr eine Aufgabe macht, die man mit den richtigen Werkzeugen abhandeln und beseitigen kann.

Im Internet kursieren Listen tränentauglicher Filme und auch die ensprechenden Bücher sind Bestseller. Wenn der Erfolg all dieser Titel darin gründet, dass man mit ihrer Hilfe die eigene angestaute Traurigkeit loswerden kann, dann muss eine Menge davon in Umlauf sein.
Schon Aristoteles hielt das Betrachten fremden Unglücks für hilfreich, weil reinigend. Und obwohl die physiologische Wirkung des Weinens selbst noch ungeklärt ist, gibt es Stimmen, die glauben, das darüber Stresshormone abgebaut werden.
Traurigkeit ist unendlich privat und zugleich geprägt von der Gesellschaft, in der wir leben. Einige Formen, die früher geholfen haben, mit der Trauer zu leben, sterben gerade aus. Trauerkleidung - mal schützende Haut, mal Zwang für die Witwen - sieht man schon lange nicht mehr. Der Umgang mit der Trauer wird jetzt an Profis ausgelagert. Es gibt eigens ausgebildete Trauerbegleiter, die Selbsthilfegruppen betreuen.
Erdbestattungen werden seltener, weil die Alten den Nachkommen Kosten und Mühe ersparen wollen. Als Erinnerungsort muss dann eine Urne oder der Platz im Friedwald genügen.
Vielleicht ist es aber ganz anders und die Traurigkeit, der man Zutritt gewährt, verhindert eine gewisse Engherzigkeit, der nichts entweicht, kein Seufzen, aber auch keine andere Lebensäußerung.

Auszug DIE ZEIT Nr. 18 v. 23. April 2020

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