Neu hier? Lies hier über unser Motto gemeinsam statt einsam.
Mitglied werden einloggen




Passwort vergessen?

40 16

Die Rettung der Kinder

Von Feierabend-Mitglied Dienstag 06.04.2021, 10:44 – geändert Dienstag 06.04.2021, 11:24

Das Foto zeigt einen Trakt des damaligen Krankenhauses Schwarmstedt
---------------------------------------------------------------------------------------------------

Mit Gewalt versuche ich, die Haustür aufzudrücken, schiebe mich schnaufend durch den schmalen Spalt. Geschafft. Ich bin schon viereinhalb Jahre alt, da hat man schließlich Kraft. Im Hausflur steht ein Kinderwagen. Ein Kinderwagen? Er ist aus Korb geflochten und hat vier kleine Räder – nichts Ungewöhnliches. Doch der gehört in dieses Haus nicht rein. Hier wohnt kein Baby. Die Familie unten neben Ebersbach, die hat zwölf Kinder, aber ein Baby nicht.

Ich springe die Treppe hinauf in den 1. Stock, schelle aufgeregt und bleibe stumm. Im Flur hinter der geöffneten Tür erscheint neben meiner Mutter eine Krankenschwester. Die Frau mit dem Häubchen macht mir keine Angst, aber ich bin unsicher und schlängele mich zwischen den beiden Frauen hindurch. „Leider kann ich den Kinderwagen nicht hierlassen. Aber wichtig war ja auch das Kind. “ sagt die Fremde. Welches Kind? Was meint sie für ein Kind? „Wir haben alles Mögliche versucht. “ erklärt meine Mutter „Der Vater ist mit einem Krankenwagen ins Kampfgebiet gefahren, eine andere Möglichkeit gab es nicht. Aber auch er hat die Kleine nicht gefunden. Wir wussten doch gar nicht, ob sie noch lebt. “ Wer noch lebt? Ich bin verwirrt. Meine Mutter beugt sich zu mir herunter und umarmt mich. Die Krankenschwester lächelt mich an: „Ich habe Dir Dein Schwesterchen zurückgebracht. “ Mein Schwesterchen? Ja, ich hatte einmal ein Schwesterchen. Damals, bevor ich ins Krankenhaus kam – ins Krankenhaus weit weg von der Familie. Meine Mutter besuchte mich zweimal in der Woche. Von Hannover nach Schwarmstedt war es weit, das wusste ich. Es gab ständig Bombenalarm und die Züge fuhren selten. Wenn sie kam, sprach sie von draußen durchs Fenster. Scharlach war ansteckend, wir durften uns nicht anfassen. Traurig war ich, wenn sie kam, und traurig war ich, wenn sie wieder ging. Ich wusste, dass sie nur ein paar Schritte weiter musste, um unser Baby zu besuchen. Es hatte Diphtherie.

Nach sechs Wochen durfte ich das Krankenhaus verlassen. Das Baby hatte ich ganz vergessen, und ich habe es auch nicht vermisst.

Das ist schon längere Zeit her. Und nun steht in unserem Flur eine fremde Frau und erzählt eine Geschichte, die ich nicht begreifen kann. Sie schleppte bei einem Alarm alle Matratzen der Krankenstation in den Keller und schob die Kinder darunter. Dann tobte der Bombenangriff. Mauern stürzten, Steine prasselten, Staub drang durch die Ritzen. Es haben nicht alle überlebt. Überlebt haben nur sie selbst und ein paar ihrer Schützlinge. In den zerbombten Mauerresten versteckt sie die kleine Gruppe vor den feindlichen Soldaten. Doch sie wurden entdeckt und kamen in Gewahrsam. „Es war eine schlimme Zeit, “ sagt die Schwester, „aber die Amerikaner haben uns versorgt bis der Krieg zu Ende war. “ Ich höre zu und begreife nicht viel. Ich spüre fürchterliche Angst und Gefahr. Und dann löst sich meine Anspannung in Zittern und Tränen.

Ich weine vor Mitgefühl und Aufregung und bin nicht zu beruhigen. Da verschwindet meine Mutter ins Schlafzimmer und kommt mit einem Baby zurück. Es ist sehr mager mit einem dicken Bauch. Aber es ist unser Kind, das steht fest. Es hat den Leberfleck am linken Unterarm, genau dort, wo er schon immer saß.

© Karin Wölm

Du möchtest die Antworten lesen und mitdiskutieren? Tritt erst der Gruppe bei. Gruppe beitreten

Mitglieder > Mitgliedergruppen > Kreativ Schreiben > Forum > Die Rettung der Kinder