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Auf dem Weg zum Tod

Von Feierabend-Mitglied Samstag 16.01.2021, 15:27

1953 starb mein Opa im Altersheim in Stuttgart, er war dort Organist. Ich hatte diesen Opa nur einmal für 2 Stunden kennengelernt, da war ich 4 Jahre alt. Er hat in mir ein liebevolles Gefühl hinterlassen. Mein Vater mietete einen VW und fuhr mit uns von Berlin zur Beisetzung. Die beiden jüngeren Geschwistern blieben bei Oma.

Im Kofferraum, beim VW vorne, lag ein wunderschöner Kranz und so fuhren wir los. Wir vertrieben uns die lange Fahrt mit dem Zählen von Autos und sahen plötzlich einen Reifen, der links vor uns über die Autobahn rollte. Im nächsten Moment rauschten wir quer über die Gegenfahrbahn eine Böschung rauf, überschlugen uns mehrmals und blieben auf der Seite liegen. Die Frontscheibe war gesplittert, die Türen ließen sich nicht mehr öffnen, es roch nach Benzin. Ich saß zwischen meinen Brüdern, mir war nichts passiert, mein Bruder hatte eine Verletzung an der Schläfe und Vater am Knie durch den Zündschlüssel, unsere Mutter schrie. Ich versuchte, mich irgendwie aufzurichten, da sah ich, dass der Kofferraum aufgeklappt war und der Kranz für die Beerdigung daneben auf der Wiese lag. Diesen Anblick werde ich nie vergessen.

Vater hatte es mühsam geschafft das Seitenfenster zu öffnen, um Hilfe zu rufen und die Feldarbeiter kamen mit ihren Werkzeugen sofort angerannt. Ich hatte kein Zeitgefühl, die Männer befreiten uns aus dem demoliertem Wagen und Mutter stand neben dem Kranz und schrie völlig aufgelöst, ich setzte mich zu ihr und versuchte, sie zu trösten. Es dauerte nach meiner Erinnerung lange, bis das Auto wieder auf vier Rädern stand, denn wir hatten einen Ersatzreifen dabei. Mutter hat in der Zeit die Wunde meines Bruders und die Knieverletzung vom Vater notdürftig versorgt. Der Motor sprang schließlich an, sie schoben uns vorsichtig auf die Autobahn,, warnten aber davor, mit diesem Wagen weiterzufahren und wollten die Polizei rufen.

Mein Vater gab Gas und fuhr mit kaputter Frontscheibe und festgebundener Tür davon, um noch rechtzeitig zur Beisetzung zu kommen. Wir haben während der Fahrt nicht mehr gesprochen, wir standen alle unter Schock. Als wir ankamen, gingen viele Menschen gerade in die Kapelle. Vater nahm den Kranz aus dem zugebundenen Kofferraum und wir betraten die Kirche. Opa war offen aufgebahrt, ich hatte noch nie einen toten Menschen gesehen und es wurde eine Musik gespielt, die mir so in die Seele ging, dass ich bitterlich weinte. Ich hatte diesen Opa, obwohl ich ihn kaum kannte, so sehr geliebt und hoffte immer, ihn irgendwann wiederzusehen. An die Rückfahrt erinnere ich mich nicht. Als ich diese Musik später in der Schule hörte, da brach ich wieder in Tränen aus, ohne zu wissen, warum. Mein Opa war viele Jahre in Südamerika , um dort ein neues Leben zu beginnen. Es war die 9. Symphonie aus der neuen Welt von Anton Dvorak.

Wenn ich dieses Stück heute höre, dann habe ich den Kranz vor meinen Augen, denke an den geliebten Opa, den ich nie näher kennenkernen durfte und ein wehmütiges Gefühl breitet sich in mir aus,

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