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Wer ist Paul?

Von Feierabend-Mitglied 18.08.2019, 12:58 – geändert 18.08.2019, 13:21

1981 arbeitete ich in ein Senatskindertagesstätte als Leiterin. Wir hatten 140 Kinder im Haus, aufgeteilt in Krippe, Kindergarten und Hort. Die Kita lag in einem Arbeiterbezirk mit einem schwierigen Klientel. Da ich selbst in solch einem Bezirk aufgewachsen bin fiel es mir nicht schwer, vom Hochdeutsch auf den bekannten Berliner Jargon umzuschalten, mich in die Menschen einzufühlen und sie dort abzuholen, wo sie gerade waren.

An einem Tag, ich hatte Spätdienst und schloss das Haus ab, da sah ich am Bordstein einen völlig verdreckten etwa 5 Jährigen sitzen, er heulte und rauchte eine Zigarette, sein Bein blutete und er konnte nicht aufstehen.
"Wie heißt du?" fragte ich, er reagierte nicht. "Sag mir, wo du wohnst!" Er zuckte die Schultern. Ich guckte mir sein Bein genauer an, es war klar, er musste zum Arzt. Ich ging die wenigen Schritte zurück in die Kita und rief die Feuerwehr, die auch wenige Minuten später vor Ort war.
Freundliche Leute, die mich fragten nach Namen, Adresse des Kindes und was passiert sei. Ich konnte nur sagen, dass ich das Kind nicht kannte, weder Namen noch irgendetwas von ihm weiß."Ich habe ihn gefunden", mehr an Auskunft konnte ich nicht geben. Im Feuerwehrauto nahm er meine Hand und sagte: "ick bin Paule, feuerwehrfahren ist dufte". Mehr sprach er nicht.
Im Krankenhaus dauerte es lange, ohne Namen, Krankenversicherung, Eltern, Adresse, über nichts konnte ich Auskunft geben, aber sie mussten ihn behandeln, röntgen, verbinden. Ich versprach, alles Notwendige herauszufinden und mich umgehend zu melden. Ich hinterließ meinen Namen, Adresse und Tel. Nr.

Dann stand ich mit ihm da, wusste nicht recht, was ich mit ihm machen sollte, bestellte ein Taxi und fuhr mit ihm zum Fundort zurück. "Paul, nun zeig mir dein Haus!" Humpelnd trottete er , meine Hand nicht losslassend neben mir her. Ich fragte an jedem Haus, wohnst du hier? Nee war die Antwort. Am 5. Haus zog er mich in den Hausflur und klingelte Parterre. Es war inzwischen 21 Uhr.
Ich hörte laute Kinderstimmen, die Tür wurde aufgerissen, ich fragte: " wo ist eure Mutter?"Die liecht in Bett und da is auch noch der Klaus bei ihr, aber der is besoffen." Chaos in der Wohnung, insgesamt 5 Kinder zwischen etwa 2 und 12 Jahren. Und dann kam sie auch schon laut schimpfend aus dem Schlafzimmer, nur mit Höschen und Hemd bekleidet, packte mich am Arm, schob mich aus der Wohnungstür und brüllte mich an: "Kümmern sie sich um ihren eigenen Scheiß' und lassen se uns in Ruhe, ick brauche keen Jugendamt!" und knallte die Tür zu.
Da stand ich nun und musste auf dem Heimweg erst einmal sortieren, was ich weiter machen kann.
Am nächsten Tag klingelte ich erneut, wollte fragen, wie es Paule geht, aber mir war klar, dass sie entweder nicht öffnet, oder mir wieder schimpfend die Tür zuknallt. Darum hatte ich einen Zettel vorbereitet, auf dem stand: "In der Kita nebenan habe ich 5 Plätze für ihre Kinder, ich kann sie sofort aufnehmen und werde nicht das Jugendamt einschalten!" Und so war es, ich drückte ihr den Zettel in die Hand und die Tür klappte zu.
3 Tage später kam sie in mein Büro, fragte: "Nehmen se wirklich alle?" "Ja Mutter, wenn ick wat verspreche, denn mache ick det och, aber ick brauch ein paar Auskünfte und sie müssen im Krankenhaus anrufen." "Nee, nee", meinte sie, "dann schicken die mir gleich det Jugendamt. machen sie det mal für mir."
Am nächsten Tag hatte ich 5 neue Kinder, gewaschen, frisch angezogen und eine Mutter, die mir zum Dank 3 Äpfel mitbrachte.

Die Kinder, anfangs chaotisch, entwickelten sich erstaunlich gut und Mutter Klara setzte sich mit Herz und Schnauze bei den anderen Eltern durch und gehörte bald zu den engagiertesten Müttern. Auch die größeren Kinder besuchten regelmäßig die Schule. Oft kam sie zum Klönen einfach mal auf einen Kaffee vorbei mit selbstgebackenem Kuchen, brachte getragene Kinderkleidung oder Spielzeug, das wir für unser Sommerfest auf dem Basar verkauften.
Ich wusste inzwischen viel aus ihrem Leben, es hatte sich ein Vertauensverhältnis aufgebaut und ich begann mehr und mehr, sie gerne zu mögen. Noch lange, auch nach einem Arbeitswechsel hatte ich noch mit ihr Kontakt.

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