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Niemand

Von tastifix Samstag 24.10.2020, 12:43

Unglücklich kauerte es mitten in einer prachtvoll blühenden Wiese. Rundum zwitscherten die Vögel und surrten die Insekten. Aber keiner beachtete jenes Häuflein Elend, das weder seinen Namen kannte noch eine Ahnung davon hatte, wer es eigentlich war.
„Ich bin eben Niemand!“
Irgendwann knurrte ihm der Magen und auf der Suche nach Nahrung trabte es in den angrenzenden Wald. Von den Sträuchern pflückte es sich Beeren gegen den Hunger und trank das von den Blättern abperlende Regenwasser. Dies musste genügen. Als die Nacht anbrach, suchte sich Niemand eine Höhle und wühlte sich tief in einen Laubberg, der es war der einsetzenden grimmigen Kälte schützen sollte.
„Ach, wäre ich doch nur nicht so allein! Dann könnte ich wenigstens jemandem von meinem Kummer erzählen!“
Aber da war nach wie vor keiner. Aber damit wollte sich Niemand nicht abfinden, denn es litt immer heftiger unter dem Alleinsein. Jedoch gab es die Hoffnung nicht auf, irgendwann, irgendwo vielleicht doch Freunde zu finden.

Traurig wanderte es weiter über fremde Wiesen, Felder und durch ausgedehnte Wälder. Nichts hielt es an einem Ort, denn es war auf der Suche nach seinem Ich. Als es so schon mehrere Tage unterwegs gewesen war, marschierte es durch ein kleines Dorf. Freundlich grüßte es die Leute mit einem Kopfnicken und, siehe da, sie grüßten genauso höflich zurück. Ein Mann fragte:
„Wer bist du und woher kommst du?“
„Ich bin niemand und komme von weither.“
„Ein wunderlicher Name!“, schüttelte der Mann verständnislos den Kopf. „Dann wünsche ich Dir noch eine gute Reise, Niemand!“, setzte er hinzu und schaute ihm, als es seines Weges ging, nachdenklich hinterher.

Wieder vergingen die Stunden. Mittags wurde es fast unerträglich heiß. Niemand war müde vom anstrengenden Wandern, schrecklich durstig war es auch und froh, dass an seinem Reiseweg eine kleine Stadt lag. Auf der Suche nach Labsal schlenderte es durch die Straßen.
„Wie heißt Du?“, fragten es neugierige Fußgänger.
„Niemand!“
„Wiiee? Niemand ist doch kein Name. Wer bist Du?“
Niemand blieb ihnen die Antwort schuldig. Was hätte es denn auch sagen sollen? Sie hätten es ja doch nicht verstanden oder es gar verspottet. Seufzend verließ es die gastliche Stadt.
„Gibt es denn kein Wesen, das mir helfen kann? Als ein Niemand werde ich bald zugrunde gehen!“

Geknickt nahm es seine Tour wieder auf und hatte schon beinahe alle Hoffnung aufgegeben, als es vor ihm auf einem Baum einen großen Vogel entdeckte, der es von oben aufmerksam musterte.
„Hallo! Wart` doch mal. Wer bist denn Du?“
Die Neugierde ließ dem Vogel keine Ruhe. Er flatterte herab und setzte sich neben Niemand. Verschämt und ganz leise gab es Auskunft:
„Ich bin niemand, kenne meine Eltern nicht und weiß nicht, woher ich stamme.“
„Du weißt nicht, wer Du bist??“, hakte der Vogel betroffen nach.
So etwas verstand er einfach nicht. Jeder, den er kannte, wusste, wer er war, wer seine Eltern waren und auch, wo sein Zuhause lag.
„Hm! Hm hm! Armes Ding! Dem muss ich helfen! - Aber wie?“

Das arme Niemand kam mittlerweile fast um vor Durst.
„Du, Vogel, ich muss unbedingt etwas trinken! Weißt Du zufällig, ob es hier in der Nähe Wasser gibt?“
„Gleich dort vorn ist ein kleiner See. Komm, ich bringe Dich hin!“
Erleichtert folgte Niemand dem Vogel. Bald erreichten sie das Ufer. Es wehte kein Lüftchen und die Wasseroberfläche lag so glatt und durchsichtig wie ein Spiegel. Niemand trank und trank von dem köstlichen Nass, so lange, bis es seinen Durst gelöscht hatte. Der Vogel beobachtete es grübelnd und auf einmal lächelte er:

„Guck mal ins Wasser. Was siehst Du?“
Verwirrt guckte Niemand ihn an und warf dann doch einen zögerlichen Blick hinein. Ein braunes Gesicht blickte ihn an.
„Uund?“
„Ich sehe mich, einen Niemand!“, erwiderte es traurig.
„Irrtum!“, erklärte sein Begleiter. „´Niemand` würde sich nicht im Wasser spiegeln. Also, was siehst Du?“
Es überlegte und überlegte und auf einmal begann es zu verstehen. Zögerlich meinte es:
„Ich sehe jemanden!“
Und dann froh:
„Ich sehe mich!“
Jubelnd hopste es herum:
„Du, ich bin kein Niemand. Ich bin Wer!!“
Der Vogel freute sich mit ihm:
„Na also!!“

Aller Trübsinn war verflogen. Es genoss den Anblick des Sees, der zum See der Erkenntnis geworden war. Vergnügt schaute es über die Wiesen und Felder und freute sich am Gesang der Vögel oben am strahlend blauen Himmel.
„Danke, Vogel!“
„Ach, aber wie ich wirklich heiße und wo mein Zuhause ist, weiß ich trotzdem nicht!“, dachte Niemand, das jetzt ein Jemand war.
Was Jemand nicht ahnte, war: Jener Vogel war eine Eule. Eulen sind kluge Tiere. Als ob sie seine Gedanken hätte lesen können, verriet sie ihm:
„Hör zu: Du bist ein Frischling aus dem Wald jenseits des Sees. Deine Eltern waren Wildschweine. Dort drüben lebt Deine Familie. Du hast eine Menge Verwandte: Tanten, Onkel und viele Geschwister. Komm, ich führe Dich zu ihnen.“

Nach einer Weile trafen sie eine Gruppe von Spaziergängern.
„Guten Tag, wer bist Du denn?“
Stolz, mit hoch erhobenem Kopf, erwiderte es:
„Ich heiße Frischling Wildschwein und meine Familie wohnt dort hinten im Wald!“
Glücklich strahlte es dabei die Eule an. Nie mehr würde es sich schämen, niemals mehr sich minderwertig vorkommen müssen. Auch
würde es nicht länger einsam sein, sondern neue Freunde gewinnen
und von allen anerkannt werden. Die Zeit der bedrückenden Traurigkeit war für immer vorbei.

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