Neu hier? Lies hier über unser Motto gemeinsam statt einsam.
Mitglied werden einloggen




Passwort vergessen?

30 12

Kinderverschickung 1954

Von Feierabend-Mitglied Mittwoch 17.03.2021, 16:01

Ich war neun Jahre alt und wurde als armes Berliner Ferienkind auf einen Bauernhof nahe Limburg verschickt, ich wurde abgeholt und liebevoll begrüßt. Auf dem Hof erwarteten mich die Großeltern und ich stand schüchtern da. Ich wurde so herzlich aufgenommen, in der großen Küche saßen Knechte und Mägde und begrüßten mich mit einem großen Hallo. Ich wurde gefragt, wo ich sitzen möchte und ich sagte spontan: “zwischen Oma und Opa." Ich hatte die alten Leute sofort ins Herz geschlossen, sicher lag es daran, dass ich nie Oma und Opa hatte. Ich schlief auch nachts in deren Zimmer auf der Couch, Opa erzählte mir Märchen, die er sich selbst ausgedacht hatte, und Oma gab mir einen Kuss. Dann sprachen sie mit mir das Abendgebet.

Opa zeigte mir den großen Hof mit den Tieren, das war für mich ein Glückstreffer, es gab alles, was ich in Natur noch nie gesehen hatte. Kühe, Schweine, Ziegen, Enten und Hühner, zwei Hofhunde und viele Katzen. In dieser Zeit entwickelte ich die Liebe zur Natur und den Tieren. Ich hatte viel Freiheit, ein mir unbekanntes Gefühl. Ich sammelte die Eier aus dem Hühnerstall, und selbst wenn mir mal ein oder zwei heruntergefallen waren wurde nie geschimpft. Ich durfte Oma in der Küche helfen, denn um 18 Uhr kamen alle Angestellten vom Feld, es wurde gemeinsam gegessen, erzählt und viel gelacht. Es war für mich das neue Gefühl, in einer richtigen Familie geborgen zu sein.

Mittags fuhr ich mit einem Handwagen zu den Arbeitern auf's Feld, beladen mit einem großen Kübel mit Suppe, Brot, Obst und Tee, immer wurde ich johlend und mit Freude begrüßt. Alle saßen im Kreis, aßen, lachten und machten viele Späße. Am Nachmittag ging ich oft mit den Hunden durch das Dorf und wurde freundlich von den Kindern begrüßt. Sie zeigten mir Verstecke und wir pflückten gemeinsam Obst von den Bäumen, es war so köstlich, ich kannte das aus Berlin nicht. Eine große Leichtigkeit breitete sich in mir aus, soviel Freude und keine Angst mehr. In Berlin war dies ja mein dauerhaftes Lebensgefühl. Auf unserem Hof spielte Opa mit mir in der Scheune verstecken oder von oben ins Heu springen.

Ein besonderer Tag war das Schlachtefest, zu dem viele Dorfbewohner kamen. Ein Schwein wurde aus dem Stall geführt und noch ehe ich gucken konnte bekam es einen Bolzen gegen die Stirn und fiel lautlos um. Wurstsuppe wurde gekocht, den Duft werde ich nie vergessen. Ich durfte überall zugucken, alles probieren, abends wurde gemeinsam im Hof gegessen, getanzt und zum Schluss ein Lagerfeuer gemacht. Pflegemutter nahm mich auf den Schoß, wir sangen viele Volkslieder, ich kannte alle und sang laut mit. Irgendwann fing ich an zu weinen, ein heftiger innerer Schmerz durchzog mich. Noch zwei Tage, dann musste ich zurück nach Berlin, es riss mich fast mitten durch. Oma nahm mich in den Arm und ich schlief an ihrer Schulter ein. Es war ein herzergreifender Abschied, aber ich habe etwas mitgenommen, das mir lange Zeit Kraft gegeben hat, mich in Berlin wieder in der Enge und Angst zurechtzufinden.

Du möchtest die Antworten lesen und mitdiskutieren? Tritt erst der Gruppe bei. Gruppe beitreten

Mitglieder > Mitgliedergruppen > Kreativ Schreiben > Forum > Kinderverschickung 1954