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Bilder aus der Kindheit

Von speedygonzalez 25.07.2021, 15:53

Elsaß

Sag mal einer, wann kamen wir ins Elsass? Kann es 43 gewesen sein? Ich, mit 3 Jahren und Wölfchen noch auf Muttis Arm? Muss wohl. Ausgehen kann man davon, dass mein Vater in den Ersatzteillagern der Südwerke, wie die Kruppschen Kraftwagenwerke seit Kriegsbeginn hießen, als Rechnungsprüfer arbeitete. Diese Lager befanden sich in Mülhausen, weiter nördlich in Richtung Straßburg und wir wohnten in Altkirch. Dort lebte Oma, Magdalene, Hansjosef, Wolfgang, die Eltern und ich. Wolfgang war im Nov. 41 in Heiligenstadt in Thüringen geboren. Jedenfalls fiel er mir noch nicht so richtig auf. Klar, mit einer älteren Schwester, Mutti und Oma war da nicht mehr viel für mich.
Sehr genau erinnere ich mich daran, wie Wolfgang in den Mühlgraben, hinter unserem Haus Rittlingstraße 100, fiel und mit vereinten Kräften heraus gezogen wurde. Die Häuser lagen um einiges höher, als der Mühlgraben und man musste einige Treppen hinuntersteigen, um an den Fußpfad zu kommen, der daran entlanglief. Das war natürlich ein idealer Spielplatz für die Kinder der Umgebung. Es war Sommer, nachmittags und eine Kinderhorde zusammen. Wölfchen bückte sich am Grabenrand nach einer Blume, als er von hinten von einem Kind neben mir, einen Schups bekam und hinein fiel. Mit dem Rücken nach oben trieb er auf die kleine Fußbrücke zu. Hansjosef sprang hinterher, aber statt Wolfgang zu fassen, sprang er im Wasser auf und ab und rief dauernd "Dieter, Dieter". Wer Wolfgang nun wirklich herausgezogen hat, kann ich nicht mehr sagen, jedenfalls wurde er ohne weitere Schäden gerettet. Hansjosefs Geschrei rührte daher, dass Wölfchen und ich die gleichen selbstgestrickten Jäckchen anhatten und er sich darum vertan hatte.

Uns in der Rittlingstraße gegenüber war eine Kohlenhandlung, namens Badoglio, wo die Kohle noch in dicken oben offenen Säcken mit starken Griffbändseln an den Seiten auf Pferdefuhrwerke verladen wurden. Das war für mich unattraktiv. Aber neben uns war die Bäckerei Winninger und das "Fröscherl" der Frau Winninger war ich. Was sich häufig in einem Stückchen "Leckeres" manifestierte. Nun, auf jeden Fall wurde ich auf diese Weise programmiert. Wenn wir auf den Markt gingen, bekam man hin und wieder ein Stück Apfel, denn mit meinen weiß-blonden Locken und der Tolle auf dem Kopf, ich glaube, das war was zum Knuddeln. In der Metzgerei, wo wir uns immer anstellen mussten, gelang es mir immer wieder, etwas von Mutti abzurücken und wenn sie dann dran war, stand ich schon neben der Theke und sagte: "Mutti hat gesagt, wir dürfen nicht betteln." Was auf den gleichen Effekt hinauslief. Alles lachte, Mutti bekam einen roten Kopf und ich ein Stückchen Wurst. Na also.

Mein Vater kam nur zum Wochenende von Mülhausen nach Hause. Und ich habe ihn immer vom Bahnhof abgeholt, alleine. Und als 3-jähriger war das in seinen Augen gefährlich und verboten. Dabei bin ich mir heute so verdammt sicher, dass der kleine weißblonde Steppke Maus, Frau Winningers Fröscherl, bekannt war und ihm schon deshalb nichts passierte. Woher auch. In dem Dörfchen gab es so gut wie keinen Verkehr und ich brauchte ja nur aus dem Haus, nach links die Straße entlang, den Hang hinunter, über den Mühlbach und ich war am Bahnhof. Dort stand ich dann mit den Füßchen in den Gitterstreben der Bahnsteigsperre, ließ mich beim Auf-und Zumachen immer mitfahren und wartete auf Vater. Und bekam jedes Mal hernach zu Hause den Hintern versohlt. Weil es verboten war. Wenn Magdalene und Hansjosef nachkamen und Vater begrüßten, durften die neben ihm gehen, nur ich musste vor ihnen hergehen und dann setzte es etwas. Aber ich war jedes Mal wieder da.

Ein schreckliches Erlebnis habe ich in Erinnerung. Es war am 5.12. und jeder wird wissen, dass es sich um den Nikolausabend handelte. Ausgerechnet da saß unser Vater mit uns in der Küche auf einer Decke auf dem Boden und wir purzelten über ihn und wurden so richtig von ihm verkitzelt. Ein Heidenvergnügen für Wölfchen und mich, da es so selten war. Plötzlich wurden von außen die Klappläden aufgestoßen und ein Straßenbesen erschien im Fenster. Wölfchen lief vor Entsetzen schreiend in den Flur, wo er, die Hände vor dem Gesicht, weiterschrie. Dass dann vergoldete Nüsse und Äpfel hereingeflogen kamen, hat er in seinem Entsetzen nicht mitgekriegt. Und etwas später kam er dann persönlich, der Nikolaus. Hansjosef flüchtete sich unter den Tisch und war um nichts in der Welt darunter hervorzuholen. So bekam ich also die ganze Prozedur ab. Was nun genau, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls habe ich es Hansjosef später nicht abgenommen, dass er unter dem Tisch gesessen hätte und sich das Lachen verbeißen musste. Konnte er später wirklich gut erzählen. Nikolaus fasste dabei mich seinem Schirm (weiß der Teufel, wozu Nikolaus im Himmel einen Schirm braucht??) und meinen Nacken und zog meinen Kopf in Richtung auf den großen Sack, wobei Mutti mir ganz entsetzt abwehrend winkte. Mehr ist mir dabei nicht passiert. Viel später erst habe ich herausbekommen, dass Onkel Erich, Vatis Freund und Arbeitskollege in dem Nikolausgewand gesteckt hätte.
Mutti wurde mit vier Kindern dann in Altkirch das Mutterverdienstkreuz überreicht, was sie sehr wütend machte, wie sie später einmal sagte. Sie habe sich die Kinder gewünscht und nicht wegen Adolf bekommen. Und als sich dann ein Bonze erdreistete, meinem Vater vorzuschlagen, dass Magdalene auf eine Blutordensburg ins Internat gehen sollte, ist er fast ausgeratet. Er hat sich bei einer anderen einflussreichen Persönlichkeit darüber beschwert und es wurde nichts daraus. Postwendend hater sie vom BDM abgemeldet. Das hätte aber auch ins Auge gehen können, nur kam es nicht mehr dazu, denn die Front rollte unaufhaltsam näher.

Das bekamen wir Kleinkinder allerdings nicht mit. Die wenigen deutschen Soldaten gehörten einfach zu unserem Straßenbild. Nur die Bomber der Amis und Tommis, die wir vom Kellerausgang aus zu Hunderten und nochmals Hunderten über uns hinweg ins Reich hinein brummen sahen, waren Ausdruck genug. Zu dieser Zeit hatten Vati und sein Freund Erich Schnitzer, mit dem er die ganzen Kriegsnöte gemeinsam durchstand, schon den Plan gefasst, zu fliehen. Die notwendigen Kisten zum Verpacken unseres Hab-und Gutes aus dem Ersatzteillager organisiert, waren schon in Auftrag. Wir sind bei Nacht und Nebel aus Altkirch weg, frag mich nicht wie. Dunkel kann ich mich an eine nächtliche Bahnreise mit verdunkelten Fenstern und blauem Licht erinnern und an sehr gespannte Eltern. Vati wurde dann, als Mülhausen verloren war, nach Kulmbach versetzt und wir landeten in einem Flüchtlingslager in Tuttlingen. Das muss im Sommer gewesen sein, denn wir sind viel an der Donau entlang spaziert. Später hat Mutti einmal erzählt, dass sie uns alles Mögliche ge-zeigt hätte, und Magdalene dabei dann äußerte: "Mutti, das wäre ja alles noch viel schöner, wenn ich nicht so einen Hunger hätte." Mutti hat vor Verzweiflung geweint.

Als ich 21 war, kam Altkirch noch einmal in mein Blickfeld. Ich war mit meiner Freun¬din, auf meinem Heinkelroller unterwegs nach Südfrankreich. Nach dem Verlassen der Autobahn bei Karlsruhe, weiter ging sie noch nicht nach Süden, fuhren wir durch Mülhouse, wie es jetzt heißt, Richtung Belfort, als ich ein Straßenschild "Altkirch 19km" sah. Ich hielt an und erzählte, was mich an Altkirch band und wir machten den Umweg dorthin. Am Bahnhof kamen wir in dieses immer noch kleine Örtchen und nach 18 Jahren!!! fand ich blindlings die Bäckerei Winninger wieder, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, auch wenn die Straße nun nicht mehr Rittlingstraße, sondern Rue de France hieß. Alte Übung, gelle?




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