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Zwischen den Jahren

Von Feierabend-Mitglied Mittwoch 14.05.2025, 15:58


Ein neuer Tag begann. Morgendämmerung. Ich lag im Bett, sortierte meine Gedanken und lauschte. Die Geräusche kamen von draußen: Es kann nur das Rumpeln der Müllabfuhr sein. Routinierte Befehlsworte vermischten sich mit dem Scheppern von Mülltonnen und verstärkten sich im Widerhall der engen Gasse. Die Stadt erwachte am ersten Werktag zwischen den Jahren. Würde man die alten Bräuche respektieren, dann müssten alle Räder still stehen in dieser mystischen Zeit der Raunächte. Allerdings waren damit die Spinnräder in den Bauernstuben gemeint, nicht die Räder der Müllabfuhr.

Mir fiel der Leitartikel der Zeitung von gestern ein:
„Die ‚Stade Zeit’ zwischen den Jahren ist eine Zeit des Wechsels und des Wandels, eine Übergangszeit. In aller Ruhe schaut der Mensch auf Vergangenes, schließt ab und macht sich bereit für neue Ziele und Wege.”

„Passt doch”, sagte ich und erschrak. Ich hatte laut gedacht.
„Was sagst du?”, fragte Rosmarie.
Ich nuschelte verlegen: „Guten Morgen”, und setzte mich auf.
Ein leichter Schauer rieselte über meine Haut, als Rosmaries Lippen meinen Nacken berührten und ihr Haar über meine Schulter fiel. Sie hauchte in mein Ohr: „Gut geschlafen? Wie fühlst du dich?”
„Großartig. Ich fühle mich wie ein Kind am Weihnachtsmorgen, das sein Geschenk ins Bett mitnehmen durfte.”
„Ach Ferdinand, du sagst so schöne Sätze. Am liebsten würde ich den ganzen Tag mit dir nur knuddeln.”
„Hört sich gut an”, sagte ich.

„So, jetzt aber raus aus den Federn. Derweil du ins Bad gehst, lauf’ ich zum Bäcker. Kaffee ist schon fertig, Ferdinand.” Sie tanzte ausgelassen bis zur Garderobe, warf ihren Pelzmantel über und huschte zur Tür hinaus.
Ich hatte Zeit zum Nachdenken. Und viele Fragen an mich selbst: Hab’ ich so viel Glück verdient? War das Liebe heute Nacht? Oder nur wilder Sex eines Ausgehungerten? Hatte ich jemals so ein schönes Gefühl erleben dürfen?
Ja und Nein.
Die meisten meiner Erfahrungen mit Frauen hatte waren Romanzen ohne wirklichen Tiefgang. Aber: Geliebt hab’ ich sie alle.

Ich schlenderte durch die Räume, die Wohnung war klein, aber geräumig. Rosmaries bezaubernder Duft schwebte überall. Die Erinnerung an gestern Abend bescherte mir ein angenehmes Ziehen in den Lenden. Zurück in der Küche, gönnte ich mir eine Tasse Kaffee und rauchte eine Zigarette. Ich sah mich um. Alles picobello. Alles paletti.

Rosmarie kam zur Tür herein und schnaubte. „Brrr, es ist saukalt draußen.” Ich bekam ein Küsschen und den guten Rat: „Zieh dich warm an, wenn du rausgehst.”
Ihre Fürsorglichkeit war rührend. Warm anziehen, ja, das wäre gut, aber was? Ich wusste nicht, was ich sagen soll. Die Tatsache, dass mein ganzes Hab und Gut in einer mickrigen Reisetasche Platz hatte, war mir peinlich.

Also wechselte ich das Thema und fragte: „Wann musst du zur Arbeit?”
„Heute erst am Nachmittag. Wir haben Zeit für uns. Oder hast du etwas vor?” „Natürlich sind ein paar Dinge zu erledigen. Genau genommen sind es drei.”
„Sag’s mir Ferdinand, vielleicht kann ich dir helfen. Ich war lange genug im Milieu, ich kenn’ mich aus und kann mir vorstellen, wie es dir geht.”

„Mein Plan ist so simpel wie schwer:
1. Arbeit suchen. 2. Unterkunft organisieren. 3. Passende Kleidung besorgen.

Du hast sicher bemerkt, dass ich kaum Gepäck habe – soll heißen: Ich habe nichts als mich selbst und das, was ich am Leib trage. Alles, was ich jemals besaß ist futsch – verstehst du? Weg, einfach so. Selbstverschuldet, selbstversoffen, selbstverloren – das war mein Status, als ich im Gefängnis landete. Anfangs erschien alles hoffnungslos, jetzt aber bin ich bereit zu kämpfen, so wahr ich Ferdinand heiße.”

„Mensch Ferdinand, wenn ich dir so zuhöre, dann bin ich jetzt schon überzeugt, dass du es schaffst. Hast du was Konkretes im Kopf?”
„Na ja, alles eher halbseidene Sachen. Mein letzter Zellengenosse war Pepsch, der ‘Doktor‘. Ich nehme an, du kennst ihn?”
„Ja natürlich. Ein harter Hund in der Branche, brutal und gerissen. Was hat er denn ausgefressen?”
„Schwere Körperverletzung. Irgend so ein Schwachsinniger ist seiner Frau Nora an die Wäsche gegangen. Pepsch hat es ein volles Jahr eingebracht, trotz des besten Strafverteidigers im Land.”
„Wie bist du denn mit ihm zurande gekommen?”
„Ganz gut, es hat ein paar Tage gedauert, aber dann hat er sich zur Vaterfigur gemausert. Jedenfalls hat mir Pepsch angeboten, mich bei Tante Rosa zu melden. Kennst du sie?”
„Und ob. Ein raffiniertes, altes Weib. Ihr gehört das Haus, indem sich eines seiner Nachtlokale befindet. Nennt sich Hotel-Tante-Rosa. Offiziell ein Vertreterhotel, in Wahrheit ist es eine miese Absteige. Früher, als es mir ähnlich ging wie dir heute, habe ich für ein paar Wochen dort gewohnt.” Rosmarie hatte sich in Rage geredet, ihre Augen funkelten vor Zorn.

„Pepsch hat mir in Aussicht gestellt, dass ich bei Nora im Lokal und bei Tante Rosa im Hotel für die ersten Wochen Kredit bekäme. Das hört sich fast seriös an, meinst du nicht?”
„Tu’s nicht, Ferdinand! Glaube mir, die pressen dich aus wie eine Zitrone, nutzen deine Notlage gnadenlos aus. Erst geben sie dir Kredit, später treiben sie dich immer tiefer in die Schuldenfalle, solange, bis du zum Leibeigenen verkommst. Ich erzähl dir keinen Scheiß, Ferdinand, ich habe es selbst erlebt. Für einen Mann wie dich, der gern mal einen über den Durst trinkt, ist das brandgefährlich.”
„Puh, da kann man ja direkt Angst kriegen, so wie du das schilderst. Was soll ich tun?”
„Auf mich hören.”
„Ich bin ganz Ohr.”

„Okay, dann kommt jetzt deine Kuchenfrau ins Spiel. Kannst du dir vorstellen, Hilfe anzunehmen? Hilfe, die nicht als Schuld gesehen wird, sondern als Baustein für eine gemeinsame Festung. Stell dir vor, wir schenken und empfangen zu gleichen Teilen, ohne zu werten.”
„Aber …”
„Nein, sag jetzt nichts, Ferdinand. Ich weiß, du bist ein Gent, ein Kumpel, ein Freund – aber auch ein Filou. Schon damals im Blue Velvet wollten dich alle Mädchen – nicht als Zuhälter – sondern als Liebhaber im wahrsten Sinn des Wortes. Du aber warst nicht zu fassen. Du warst ein Vagabund der Liebe – unstet und frei. Immer da und doch nie ganz.
Bei mir, damals noch Eigentum von Heinz, gingst du aber aufs Ganze. Wir haben es beide gespürt, trotz der vielen Cuba-Libre, dass es mehr war als nur ein Abenteuer. Du magst es vergessen haben, Ferdinand, ich nicht. Für mich war es ein Wendepunkt.”

Ich war platt. Mit solchen Worten war ich noch nie zum Bleiben animiert worden. Rosmarie hatte mich gut eingeschätzt. Ich war immer eher ein Geber als Nehmer. Gut, ein bisschen übertrieben hatte sie schon, aber insgesamt gefiel mir das Bild, das sie von mir zeichnete. Vor allem den Filou fand ich schmeichelhaft. Meine Entscheidung war längst gefallen. Rosmaries Augen glänzten verdächtig, als ich sagte: „Ich bleibe gerne. Ich bin glücklich und froh, dass es dich gibt.”

„Juhu!”
Mehr brachte sie nicht heraus, offenbar steckte der berühmte Kloß in ihrer Kehle. Ich drückte sie fest an mich. Lange standen wir so fest umschlungen. Rosmarie schenkte mir ihr schönstes Lächeln und sah plötzlich wie eine freche Göre aus. Jetzt kam Bewegung in ihren Körper, sie war ein echtes Energiebündel.

„Ich weiß jetzt, was ich tue”, sagte sie, lief in die Diele, riss eine Schranktür auf und kam mit einem Berg von Jacken und Pullovern zurück. „Schau mal, was ich da habe.”
Sie legte einen Anorak mit Fellkapuze, einen riesigen Norwegerpullover und einige Rollis auf den Küchentisch. „Na, was sagst du? Die Dinger sind so groß geschnitten, dass sie auch dir passen, wetten?”

Bevor ich was sagen konnte, bekam ich den Norweger übergezogen. „So und jetzt den Anorak drüber. Na, was sag ich denn? Passt wie angegossen.”
Rosmarie war in ihrem Element. Sie flitzte durch die Wohnung, dass ich mit dem Schauen nicht nachkam. Innerhalb zehn Minuten hatte sie mich in einen Skitouristen verwandelt. Die Stimmung war großartig.
Es folgte ein Moment irritierten Schweigens – dann fing sie zu lachen an. Sie hatte meine Mokassins entdeckt. „Shit, das geht gar nicht. Es braucht eine Lösung.”

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