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Zwergriese

Von Feierabend-Mitglied Freitag 24.06.2022, 17:37 – geändert Freitag 24.06.2022, 18:25

Zwergriese

Mein Name ist Törpe.
Ich habe nur diesen einen.
Ich habe ihn, seit ich denken kann.
Er gefällt mir. Ich mag ihn.
Er ist ungewöhnlich und besonders und gibt mir das Gefühl, auch ein wenig besonders zu sein.
Es ist dies ein gutes Gefühl.
Ich wandere. Ich wandere durch eine Gegend, da war ich vorher noch nie. Ich kann Felder sehen und Wiesen und einen Weg, der mitten hindurchführt. Links wie rechts des leicht abschüssigen gechwungenen Weges wogt das Korn. Ja, man sagt „wogt“, obwohl es mit Wasser nichts gemein hat. Und ich sage Korn statt Getreide, weil es meine Buchwalder Oma auch nie anders nannte.
Und ich wandere. Auf dem Rücken habe ich den grün-grauen Rucksack und in der Hand den Wanderstock. Den habe ich einstmals auf dem Weg nach Sebnitz, der Kunstblumenstadt in Sachsen, gefunden und beschnitzt. Ohne Stock und Rucksack wäre es nur Spazierengehen.
Ich aber wandere. Fast fühlt es sich an, wie auf einem Jakobsweg.
Die Sonne, die sich schräg oberhalb und hinter mir befindet, lässt die Luft über den gelben Feldern flirren. Ich atme tief ein und breite die Arme aus, wie, um die Landschaft zu umfassen. In der Ferne ist der Horizont im Sonnenglast nur zu erahnen.
Es ist mild. Nicht zu warm und nicht zu kühl. Richtiges Wanderwetter.
Ich rieche das Korn. Es weckt Kindheitserinnerungen.
In der Mitte dieses idyllischen Bildes sehe ich eine Türe in der Ferne. Rot steht sie da inmitten all des Gelbs.
Es ist nur eine Tür, keine Mauern und keine Wände. Frei steht sie da. Je näher ich komme, desto riesiger wird sie. Sie lässt mich an den Felsen El Capitan im Yosemite-Nationalpark denken, dessen Steilwand tausend Meter über den Grund ragt.
Diese riesige rote Tür hat drei Kassetten. Die obere der drei ist ein Fenster. Das ist geteilt durch filigrane Stäbe. In der Mitte ist eine Raute, wodurch das Fenster in fünf Teile geteilt ist. Die kleinen Scheiben schillern leicht grünlich.
Plötzlich ist neben mir ein Donnern und eine Erschütterung. Ich schaue nach rechts. Ich sehe einen Riesenschuh mit Schnürsenkeln dick wie Schiffstaue. Sie gehören zu einem riesigen Kerl.
Sein Name ist Leviatan. Das weiß ich einfach. Genau, wie ich auch weiß, dass mein Name Törpe ist.
Als sich der aufgewirbelte Staub verzogen hat, sind die Beine mit den Schuhen samt Riesenkerl schon weit vor mir und streben der roten Türe zu.
Ich weiß mit einem Mal, dass ich rennen muss, um die Türe zu erreichen, bevor sie hinter dem Riesen zuschlägt.
Mein Rucksack hüpft auf den Schulterblättern hin und her, ich schnaufe vor Anstrengung. Aber ich habe die Türe erreicht. Vor mir eine hüfthohe Wand aus Holz. Ich werfe den Wanderstock über die Wand und schwinge selbst hinauf. Es ist die Türschwelle. Hinter mir kracht die Türe zu.
Als ich mich aufrichte, bin ich in einem großen Raum und sehe über mir ziemlich weit oben eine Holzdecke. Ich bin von vier eckigen Säulen umzingelt. Es sind die Unterseite und die Beine des Stuhls, auf dem der Riese sitzt.
Vor mir sehe ich seine beiden riesigen Schuhe. Plötzlich klatscht etwas neben das rechte Stuhlbein auf die Dielen, groß wie ein Kuhfladen. Es ist gelb und riecht nach Farbe. Ich weiche zurück bis zur Wand.
Der Riese Leviatan sitzt da auf seinem Stuhl vor einer Staffelei.
Er malt ein Bild. Inmitten einer gelben Landschaft steht eine rostrote Tür.
Ganz unten am Rand der Leinwand ist eine kleine Figur mit Wanderstock und grün-grauem Rucksack zu sehen, die in das Bild hineinläuft.

Mein Name ist Törpe.

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