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KEHRAUS

Von Pinnacle Donnerstag 28.05.2020, 08:40

Kehraus
Joa Bosch ©BJS

Der Mann erwachte. Seine Sinne nahmen langsam die Realität wahr. Eine Lautsprecherdurchsage drang in sein Ohr: „…München-Hannover fährt in zwanzig Minuten von Gleis acht ab“.
In seinem schmerzenden Kopf, der seitlich auf einer Tischplatte lag, erzeugte dieser blecherne Klang noch mehr Unbehagen. Der Kater war fürchterlich. Der Geschmack in seinem Mund um so mehr und er setzte sich mühsam auf. Er befand sich tatsächlich in einem SB-Cafe´ eines Bahnhofs.
Schemenhaft kehrten die ersten Erinnerungen zurück.

Er - Professor Karl Liebermann - Dozent für Höhere Mathematik an der Universität München, angesehen und bekannt für sein ruhiges und seriöses Wesen, fand sich in einer ihm sehr befremdlichen Lage wieder.
Konfetti rieselte aus seinem zerzausten Haar, bunte Luftschlangen bedeckten Hals und Schultern, eine verrutschte Pappnase schmückte die Stirn und eine verglimmte Zigarette klemmte zwischen seinen Fingern.
„Ich bin doch Nichtraucher“! – war sein erster klarer Gedanke.
Erstaunt betrachtete er nun auch einen schleimigen Beutel, der an seinem linken Handgelenk befestigt war. Voll Ekel warf er den Zigarettenstummel von sich. Was ist passiert? Was war heute für ein Tag? Wie kam er in diese Situation - und warum überhaupt?

Bei genauerem Betrachten entpuppte sich der Beutel als eine zerknautschte Plastiktüte mit der Aufschrift „Petri-Frische-Fische“. Aus ihr tropfte eine grünlich stinkende Flüssigkeit. Ach ja, Faschingsdienstag, da fanden ja keine Vorlesungen an der Uni statt und er war am Vormittag auf den Markt gegangen, um Fisch für Aschermittwoch zu kaufen. Er liebte Grünen Aal in Dillsoße nach Muttis Rezept.

Schwaden von Erinnerungen stiegen jetzt vom gestrigen Tag auf. Die Einkäufe waren rasch erledigt. Der Aal, etwas Kräutertunke und eine Flasche Weißwein waren in der „Petri“-Tüte sicher untergebracht, und er machte sich auf den Heimweg. Aber dann?

Ach ja, da näherten sich doch plötzlich wild-rhythmische Klänge und eine brasilianische Samba-Trommler-Kapelle zog mit lautem Getöse und schrillen Pfiffen an ihm vorbei. Die Musik drang angenehm durch Mark und Bein und seine Hüften wiegten sich im Takt.
Der Gruppe folgte eine große Menge gutgelaunter Menschen, die der Musik hinterher tanzten. Auch er spürte nun Lust an Tanz und Bewegung. Professor Liebermann reihte sich ein, tänzelte anfangs nur, aber bald stampfte und drehte er sich ebenso rhythmisch wie alle anderen fröhlich im Kreis und schwenkte dabei seine Einkaufstüte.
Er hatte sie wegen seiner immensen Vergesslichkeit vorsorglich an seinem Handgelenk verknotet. Nebenbei bemerkte er, wie der Zug sich von seinem Stadtteil wegbewegte. Ihm war das jetzt egal.

Lachende Menschen prosteten sich aus mitgebrachten Getränken lustig zu. Liebermann nahm aus einer angebotenen Sektflasche einen kräftigen Schluck. Wildfremde Leute umarmten und küssten ihn. Jemand bewarf ihn mit bunten Luftschlangen, vom Himmel regnete es glitzernde Papierschnitzel und eine Frau zog ihm lachend eine rote Pappnase über. Fröhlich holte er seine Weinflasche hervor, öffnete den Schraubverschluss und prostete der Menge zu. Menschen, Masken und Kostüme vermischten sich mit der animalischen Musik zu einem wahren Veitstanz. Immer mehr Kostümierte schlossen sich dem Narrenzug an. Liebermann schunkelte untergehakt in der fröhlichen Masse mit.

Irgendwann kehrte die Menge in den großen Saal einer Gaststätte ein. Hier spielte eine andere Kapelle mit ebenso wilden Klängen zum Tanz auf. Liebermann stellte sich an die Bar und trank den Rest aus seiner Weinflasche. Ein „hübsches Kätzchen“ fragte ihn: „Trinkst Du immer alleine? Ich heiße Elli“, und fragte mit im Mundwinkel glimmender Zigarette: „Als was gehst Du denn?“ Dabei schob sie die Pappnase schräg nach oben auf seine Stirn und küsste ihn auf die Wange. Liebermann lallte: „Hallo, ich bin der Karli, bin Professor und heiße Liebermann.“
Dann, etwas ungeschickt, führte er sie, mit seiner Plastiktüte am Handgelenk, auf die Tanzfläche. Bei dem ganzen Geschiebe und Gedränge kam man sich näher, küsste und lachte viel.
Jeder seiner Stolperschritte wurde mit einem „Aber hoppala, Herr Professor“ quietschend quittiert. So wechselten sie immer wieder von der Tanzfläche zur Bar und zurück; der Aal in Plastik immer dabei. Bald fragte sie ihn neugierig: „Gehört das riechende Handtäschchen zu Deinem Kostüm?“ Lachend antwortete er: „Ja, ich bin Petrus der Fischer.“ Ihren Durst löschten sie hin und wieder mit einigen Gläschen Sekt. Bald blieben sie ganz an der Bar, tranken grün und gelb schillernde Cocktails und plauderten Händchen haltend.

Dabei erzählte Liebermann von seiner Einsamkeit, dem Ärger mit den Studenten und drückte seine Freude über ihre zufällige Bekanntschaft aus. Elli hatte einen Schwips, nickte verständnisvoll, zündete zwei Zigaretten an und schob eine davon zwischen seine Lippen. Dann erzählte sie von ihrem ganzen Stress in der Firma X, bei der sie arbeitete.

Die Stunden verschwanden ebenso schnell wie die vielen Zigaretten, die beide rauchten. Liebermann fühlte sich wohl. Irgendwann begann die Kapelle leisere Töne zum Kehraus zu spielen.
Elli blickte plötzlich auf die Uhr und sagte: „Lieber Karli Liebermann, würdest Du mich jetzt bitte zum Bahnhof bringen, um nulluhrzwölf geht meine S-Bahn nach Petershausen, und fügte müde hinzu: „Ich muss nachher wieder in die Tretmühle.“
Sie küsste ihn noch einmal und flüsterte gähnend: „Mein Lieber, am Aschermittwoch ist alles vorbei.“ Liebermann nickte verständnisvoll, aber dennoch traurig über das abrupte Ende einer schönen Nacht. Er bezahlte die Zeche. Dann schwankten sie aus der Gaststätte hinaus, hin zu einem wartenden Taxi und ließen sich zum Bahnhof fahren. Liebermann brachte die Schöne der Nacht bis zur S-Bahn, verabschiedete sich brav und winkte dem Zug noch lange nach.

Ja, so war das also gewesen!
Jetzt wurde ihm alles bewusst, „Oh Gott!“ Er betrachtete sich von oben bis unten und befand: „Nein, das war seiner nicht würdig“ und beschloss alles ganz schnell zu vergessen. Er schüttelte ungläubig den Kopf, raffte sich auf und wollte gerade das Cafe´ verlassen, als ein gewaltiger Schreck in seine Glieder fuhr. Moritz, einer seiner besten Studenten, betrat in Begleitung seiner Eltern den Raum. Hastig zog Liebermann sich die Pappnase über, wickelte alle Luftschlangen um seinen Hals, taumelte an ihnen unerkannt vorbei und verließ fluchtartig den Bahnhof.
Nachdenklich murmelte Moritz seinen Eltern zu: „Also, wenn der Penner nicht so verkommen und fürchterlich gestunken hätte, könnte man meinen, dass das gerade mein Mentor war“.
Dann tranken sie zum Abschied Kaffee.

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