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Etwas auf dem Kerbholz haben

Von Pinnacle Montag 08.06.2020, 09:54

Etwas auf dem Kerbholz haben
Joa Bosch ©BJS

Nur ein paar verlorene Sonnenstrahlen drangen durch die bleiverglasten Butzenscheiben in das düstere Kontor. „Wohlan, lasset uns den Handel jetzt besiegeln“, sprach Balthasar Winkler, ehrbarer Kaufmann zu Nürnberg. Er winkte einem seiner Gehilfen und ließ sich ein Zählstock, dem so genannten Kerbholz reichen. In den fein gehobelten und glatten Stock, gerade mal eine Elle lang, schnitzte der Kaufmann mit einem scharfen Messer sorgfältig zwanzig Kerben ein. Dabei achtete er auf einen sauberen Abstand zwischen den Einschnitten.

„Henslein, wie Ihr seht, steht hier je eine Kerbe für ein gestrichenes Malter Getreide. Das sind 3 Taler, die Ihr mir pro Malter schuldet“. Jakob Henslein, Händler zu Sulzbach, gelegen in der kargen „Steinpfalz“, dem nordöstlichsten Teil vom Fürstentum „Obere Pfalz“, nickte zustimmend.

Daraufhin spaltete der Kaufmann mit derselben Klinge das Kerbholz der Länge nach, überreichte eine Hälfte an Henslein und sprach: „Dies ist Eure Schuldurkunde, auf der, wie auch auf meiner Gläubigerurkunde, fälschungssicher der Handel dokumentiert ist. Am vereinbarten Zahltag, dem 19. Jänner Anno 1676, fügen wir die Hälften des Kerbholzes wieder zusammen und wenn die Markierungen zweifelsfrei übereinstimmen, werdet Ihr Eure Schuldigkeit von 60 Taler Dato und sofort in vollem Umfang begleichen. Wenn jedoch auf Euerer Kerbholzhälfte manipuliert wurde, gilt meine Hälfte als Beweismittel vor der hohen Gerichtsbarkeit hier zu Nürnberg. Jakob Henslein, ihr habt jetzt 60 Taler Schulden auf dem Kerbholz“. Henslein nickte bejahend und verabschiedete sich höflich von Balthasar Winkler.

Dann begab er sich in den Warenhof und ließ von seinem Knecht die 20 prall gefüllten Maltersäcke auf den Ochsenkarren laden. Ja, die Reise nach Freudenberg wird lang und bestimmt sehr beschwerlich sein. Aber nach dem Verkauf des Getreides, in der unfruchtbaren Gegend seiner Heimat, wird wohl ein hübsches Gewinnsümmchen übrig bleiben.

Die Redewendung „etwas auf dem Kerbholz haben“ bedeutet sinngemäß „Schulden zu haben“. Mit dieser Zähltechnik wurden in England noch bis in das 19. Jahrhundert Steuerquittungen ausgestellt. In den Alpenländern wurden solche Kerbhölzer für den Vieh- und Milchhandel noch bis in das 20. Jahrhundert verwendet.

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