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Die Porzellanuhr

Von Pinnacle Montag 01.06.2020, 09:12

Die Porzellanuhr
Joa Bosch ©BJS

Die alte Frau saß auf ihrem winzigen Balkon, der zu ihrer kleinen Sozialwohnung gehörte und genoss die letzten Sonnenstrahlen des herbstlichen Tages. Auf ihrem Schoß lag der Fund vom Wertstoffhof, der sie so überraschend und sehr glücklich in ihre Kindheit zurück versetzt hatte. Es war eine der Porzellan-Küchenuhren aus den 30er Jahren, die sie zwischen dem Gerümpel fand. Dem cremefarbenen Gehäuse sah man die vorbeigezogenen Jahrzehnte deutlich an, der Glasdeckel hatte einen Sprung und das Uhrwerk war für immer verstummt. Die Zeit war für alle Ewigkeit abgelaufen.

Liebevoll streichelten ihre abgearbeiteten Finger über das Relikt aus Ihrer Kindheit. Und sie erinnerte sich, wie ihr Vater alle acht Tage mit einem großen Flügelschlüssel einer ähnlichen Uhr neue Kraft gab.
Das war ein Ritual, das er immer am Sonntag nach dem Mittagessen vollzog und die ganze Familie schaute dabei aufmerksam zu.

Sie wohnten damals in dem kleinen Haus am Meer zwischen den Dünen, wo sich die Gräser im Wind ebenso wellenförmig bewegten wie das Meer und die Möwen tanzten in der salzhaltigen Luft dazu. Ganz langsam zog sie diesen Geruch aus ihrer Kindheit ein und lächelte dabei still vor sich hin. Sie und ihre vier Geschwister hatten in dieser Idylle am Meer eine wunderschöne Kindheit und die Eltern gaben ihnen gute Werte mit auf den Weg, die ihr ganzes Leben positiv beeinflussten.

Doch eines Tages musste Papa weg und er kam nie wieder. Der große Krieg hatte ihn, wie Millionen andere Menschen auch, einfach verschlungen. Als der große Krieg endlich vorbei war, verlor ihre Familie auf der Flucht auch noch das gesamtes Hab und Gut. Im Westen angekommen fanden sie bei einer Tante eine bescheidene Unterkunft. Sie war damals zwölf und wenn Mama unterwegs war um restlichen Habseligkeiten für einen Kanten Brot umzutauschen oder bei Bauersleuten zu betteln, beaufsichtigte sie die Kleinen und war ihrer Tante noch zur Hand.

So sammelte sie Erfahrungen und verlor dabei ihre kindliche Unbeschwertheit. Aber sie machte auch ganz neue Beobachtungen. Die Menschen hatten wieder Hoffnung halfen sich gegenseitig um die Spuren der Not und Entbehrung zu tilgen. Sie erinnerte sich, wie sie mit ihrer Mutter und anderen Frauen in den Trümmern Stein für Stein vom Mörtel befreiten, sortierten und daraus wieder etwas Neues und Schönes entstand. Eine Welt der Farben vertrieb immer mehr dieses staubige Grau in Grau, auch aus den Gesichtern der Menschen. Es war ein wunderbares Glücksgefühl, als Phoenix sich aus der Asche erhob.
Später verlief ihr Leben in ruhigeren Bahnen, heiratete bald. Ihr Mann kümmerte sich genauso liebevoll um ihre zwei Kinder wie ihr verschollener Vater es getan hatte.

Sie arbeitete über 40 Jahre als Verkäuferin in einer kleinen Bäckerei und ihre freundliche Art wurde von der Stammkundschaft sehr geschätzt. Sie war auch in der Nachbarschaft sehr beliebt und hatte für jeden ein offenes Ohr. Leider erkrankte ihr Mann sehr plötzlich und starb. Als sie in den Ruhestand gehen musste, nahm sie eine Stelle als Putzhilfe in einem Bürogebäude an, denn ihre karge Rente langte gerade, um damit bis zum Monatsende auszukommen. Sie sparte an Strom, Heizung und Nahrung wo sie nur konnte. Wenn ihre zwei Söhne nicht ab und zu etwas aus dem fernen Amerika ihr zukommen ließen, würde sie sich nicht einmal sonntags mit einer befreundeten Dame im Cafe treffen können. Es war der letzte Kontakt, der ihr noch möglich war. Ihre Verbindung zur Außenwelt war ein kleiner uralter Röhrenfernseher und der konnte nicht die vielen neuen Sender empfangen.

Ach ja, sie dachte gerne an die alten Zeiten zurück. Wieder und wieder streichelten ihre runzeligen Hände über die Erinnerung aus ihrer Kindheit. Als ihr das Uhrgehäuse aus ihren Fingern glitt, auf den Boden fiel und in 1000 Stücke zersprang, hörte sie das nicht mehr. Sie war schon längst für immer gegangen.




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