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Der Zaubermantel

Von ehemaliges Mitglied Mittwoch 13.02.2019, 16:55

Von einer Freundin bekam ich ein Paket mit Kleidungsstücken. In ihm befand sich u. a. ein hellgelber, weitgeschnittener, eleganter Mantel aus Baumwolle.
Kaum bewegte ich mich darin in der Öffentlichkeit, geschah Unglaubliches. Am Abend, ich hatte gerade das Haus verlassen, trat ein Mann im Nebenhaus aus der Tür und sagte, „Guten Abend, Madame!“ Es war ein Farbiger. Am nächsten Tag sagte ein Italiener in Begleitung eines Mannes, auf seine Armbahduhr deutend, „wieviel Uuuuhr?“

Einige Schritte weiter wollte ich mir eine Zigarette drehen, und zu diesem Zweck sitze ich gern. Ich setzte mich also an einen Tisch eines Restaurants, auf dem ein Teller mit Speiseresten und ein leeres Glas standen. Ich wählte diesen Tisch absichtlich, weil ich nicht bedient werden, also nichts verzehren wollte. Während ich da so saß, dachte ich, „wenn ich jetzt Hunger hätte, den überbackenen Zwiebelring würde ich gern essen.“ Es befand sich noch ein kleiner, abgenagter Knochen auf dem Teller, den ich mir für meinen Hund einsteckte.

Plötzlich steht ein Mann vor mir am Tisch. Er steht wortlos da und schaut nur. Ich denke, das ist die Bedienung und frage, „was ist?!“ Jetzt erwacht er aus seiner Erstarrung und sagt, das sei sein Teller, aber ich könne ruhig sitzen bleiben, er wolle mich nicht stören. Ich erhebe mich sofort, und er entschuldigt sich vielmals, dass er mich gestört habe ... Ich gehe die Straße weiter entlang und höre ihn immer noch Entschuldigungsworte murmeln. Und bei der Vorstellung, was er wohl denken mag, wenn er feststellt, dass sich diese „elegante Dame“ den Knochen eingesteckt hat, lässt mich in Lachen ausbrechen. Noch 50 m weiter lache ich. Und mich erheitert auch die Vorstellung, beinahe den verlockenden Zwiebelring aufgegessen zu haben.

Am nächsten Abend gehe ich in mein bevorzugtes Lokal, es hat die Auszeichnung „Weltrestaurant“, und die hat es zu Recht. Auch hier werde ich gleich beim Eintreten begrüßt und zuvorkommend behandelt. Ich lerne einen Kunstmaler kennen, wir unterhalten uns gut und von da ab jeden Abend.

Vier Abende später gehe ich erstmal an „meinem“ Restaurant vorbei, weil ich erst zu meiner Bank fahren muss, um Geld abzuheben. Ich komme an einer gerade eröffneten Bildergalerie vorbei, in der eine Vernissage stattfindet. Der Galerist steht vor der Tür, spricht mich an, lädt mich zu einem Bier ein. Ich folge seiner Einladung, und was sich im Folgenden abspielt, ist unglaublich!

Ich habe die tollsten, interessantesten Gespräche wie schon seit langem nicht mehr. Ich werde eingeladen zu einem Ehepaar, das einige Häuser weiter wohnt und auch in deren Haus in Westdeutschland. Ein Rechtsanwalt, der seine Kanzlei auf dem Platz in der Nähe hat, bietet mir einen Job an. Ein Mann, ganz in schwarz gekleidet, erzählt mir eine schöne Geschichte von seinem Großvater. Eine Frau, ebenfalls ganz in schwarz, bietet mir ebenfalls eine Arbeit in ihrer physiologischen Praxis an. Ich gebe meine Eindrücke der Bilder wieder: „Das erscheint mir wie Kandinsky, von dem Bild habe ich den ... Eindruck ...“ usw.
Alles staunt, ist beeindruckt, begeistert.
Ich kam reichlich auf meine Kosten, was Unterhaltung, Kontakte und Bier trinken betraf. Den Weg zum Geldinstitut konnte ich mir sparen.

Am nächsten Abend treffe ich „meinen“ Maler wieder und erzähle ihm, was ich in der Galerie erlebt habe. Er bekommt sich vor Lachen nicht mehr ein. Die haben dich für eine Mäzenin gehalten, dabei bist du eine arme Rentnerin! Er sei zu dieser Ausstellung nicht gegangen, da träfe er nur die Leute, die er im Obstladen auch träfe - im übertragenen Sinne gemeint.




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