Neu hier? Lies hier über unser Motto gemeinsam statt einsam.
Mitglied werden einloggen




Passwort vergessen?

9 6

Der unbekannte Onkel

Von Feierabend-Mitglied Freitag 03.02.2023, 00:28 – geändert Freitag 03.02.2023, 00:33


Dieser Mann war ihr Onkel.
Sie wusste nicht, was das Wort bedeutet.
Sie war sechs Jahre alt.
Er beugte sich zu ihr nieder und erklärte ihr ein letztes Mal, was nun folgen wird. Wieder hatte sie Mühe, ihn zu verstehen. Aber sie verstand ihn. Das eine oder andere sollte sie ihm nachsagen. Das tat sie. Er gab ihr einen Schubs, als die Ampel grün war, und sie ging über den Zebrastreifen zum Markt. Sie blickte sich nicht um. Er hatte gesagt, das dürfe sie nicht, sie solle schnell gehen. Sie ging schnell und schaute auf den Boden und hatte die Hände in den Taschen.
In der Gasse zwischen den Marktständen drückte sie sich an den Männern vorbei, ohne ihren Schritt zu verlangsamen. Den Kopf behielt sie gesenkt. Die Männer richteten ihre Stände her, fegten, legten das Gemüse zurecht und das Obst, sie wichen ihr aus oder blieben stehen, um sie vorbei zu lassen. Und es wunderte sich keiner über sie. Genau so würde es geschehen, hatte der Onkel gesagt.
———————————————---------------------------------------------------------------
Sie ging immer weiter und weiter. Den Kopf gesenkt und die Augen auf die Pflastersteine gerichtet, so wie der Onkel ihr nahgelegt hat. Ab und zu spürte sie die Blicke der Menschen auf der Straße, aber sie wagte es nicht, diese zu erwidern.
Sie hat noch nicht gefrühstückt. Am meistens quälte sie der Durst. In dem dunklen Zimmer war sehr feucht. Die meiste Zeit hat sie geschlafen. Aber, wo war das Fenster? Warum war drin so unheimlich dunkel und still? So genau wusste sie jetzt nicht mehr. Als der Onkel sie dahin gebracht hat, war sie sehr müde. An das kann sie sich noch heute gut erinnern.
Atemlos lief sie die Straße entlang. Die schwarzen Punkte vor den Augen verdichteten sich und ihr wurde übel. Sie unterdrückte das unangenehme Gefühl, das noch bis heute in ihrer Erinnerung ziemlich präsent ist, indem sie ihre Atmung beschleunigte. Damals tat sie das unbewußt. Heute weiss sie, das war das einzig Richtige.
Tatsächlich, niemand interessierte sich für sie, so, wie der Onkel vorausgesagt hat, fiel ihr schon damals auf.
Einmal, an einem Markstand, ist ihr das Herz fast stehen geblieben. Eine Frau hätte sie fast aufgefangen.
Sie musste sehr erschreckt gewirkt haben, weil die Budenbesitzerin im letzten Moment zurück gewichen war. Das Bild der verschreckten Frau hat sie noch heute vor den Augen.
Kein Wunder, so, wie sie damals ausgesehen hat, in ihrem verdreckten Sommerkleidchen, barfuß, die Haare zerzaust.
Der Onkel hat lange nach ihrer Mutter gesucht, so kam es ihr damals vor. Sie selbst war keine große Hilfe für ihn. Sogar ihre Urlaubsadresse hat sie damals vergessen. Vielleicht vor Angst oder vor Aufregung.
Sie hatte damals das Gefühl, dass er sich sehr bemüht hat ihre Mutter zu finden.
Überhaupt, ganz tief, in einer dunklen Ecke der Erinnerung, war ein Schatten. Etwas, was sie sich nicht erklären konnte. Es schien alles unwirklich zu sein, wie eine ungeplante Reise, die in realen Leben nie statt gefunden hat.
Es hat alles so schön angefangen. Sie flog mit ihrer Mutter in den Urlaub. Das machten sie jedes Jahr. Dort, in dem schönen Ferienhaus am Meer dürfte sie mit ihrem Vater spielen.
Ob sie ihn mal vermisst hat? Darüber hat sie nie nachgedacht. Damals war sie noch zu klein, um die Zusammenhänge zu verstehen. Nach dem Urlaub flogen sie jedesmal mit der Mutter zurück nach Hause. Der Vater war wie immer dort geblieben. Er musste doch arbeiten und sie sollte bald eingeschult werden.
Leider ist damals alles anders gegangen. Es war sehr warm. Sie hat auf dem Strand gespielt. Die Mutter wollte ihr ein Eis holen. Nach einiger Zeit kam ein Onkel, den sie nicht kannte und nie gesehen hat, und hat sie abgeholt. Er sagte, dass die Mama auf sie wartet. Danach haben sie sich irgendwie verlaufen, sind lange durch die Straßen geirrt und nach der Mutter gesucht.
Der Onkel war schon alt, so ungefähr wie Vater. Er war sehr lustig und sie beide lachten viel. Er sagte, dass die Mutter schon ein großes Mädchen ist und sie muß sich nicht um sie sorgen oder traurig sein. Weiter erklärte er ihr, dass die Menschen hier eine andere Sprache sprechen, die sie und ihre Mutter nicht gelernt haben. Er meinte, deswegen dauert es bisschen länger, bis wir sie finden.
Die Erwachsenen machen oft Sachen, die Kinder nicht verstehen können, genau so hat er ihr damals gesagt, mehrmals, das weiß sie noch ganz genau. Noch heute kann sie sich ziemlich gut an seine Worte erinnern.
Die frische Morgenkühle wich allmählich der Vormittagssonne. Die Luft wurde immer heißer. Trotzdem ging sie weiter, geradeaus, wie er ihr aufgetragen hat. Immer mehr Menschen drängten sich um die Marktstände. Die Angst, dass jemand nach ihr greifen, oder noch schlimmer, sie festhalten und das Treffen mit der Mutter noch in letzten Moment verhindern könnte, war spürbar groß. Sie hörte ihr Herz laut pochen. Doch, wie versprochen, ihre Hände in den Taschen des Kleides und ihre Augen auf die eigene und auch auf die fremde Füße gerichtet, versuchte sie im Eiltempo die Menschen umzugehen.
Eine bunte Welt mit fremden Gerüchen, lauten Rufen und einer Musik, die in ihren Ohren fremd klangt. Das wurde ihr zu viel. Sie wollte nur noch schnell den Platz mit dem Springbrunnen zu erreichen, so, wie der Onkel ihr aufgetragen hat, aber plötzlich drehte sich alles um sie, wie ein Kirmeskarussell. Die Luft wirbelte und dann… eine angenehme Dunkelheit und Stille.
Irgendwann wachte sie auf. Alles weiss. Das Bett weich und warm. Ihre Mutter saß neben ihr, hielt ihre Hand und lächelte.
———————————————————————————————---------------
Nach Mutters Tod, bei der Wohnungsauflösung, fand sie in einem alten Fotoalbum mit den vergilbten Bildern aus ihrer Kindheit auch einen Zeitungsartikel. Es wurde über eine Kindesentführung aus einem Urlaubsort in Ägypten, die vor ca 50 Jahren sich ereignet hat, berichtet. Das Mädchen war damals sechs Jahre alt. Es war kein Foto dabei. Sie wunderte sich, warum bloß war dieser Artikel ihrer Mutter so wichtig, dass sie ihn aufbewahrt hat? Sie las ihn und so kamen die Bruchstücke der Erinnerung langsam wieder zurück.

Du möchtest die Antworten lesen und mitdiskutieren? Tritt erst der Gruppe bei. Gruppe beitreten

Mitglieder > Mitgliedergruppen > Kreativ Schreiben > Forum > Der unbekannte Onkel