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Der gestohlene Weihnachtsbaum

Von Feierabend-Mitglied 09.12.2018, 15:40


Das kleine Weihnachtsbäumchen mit den Kunstfaser-Tannennadeln und den elektrischen Kerzen war ganz entzückend geschmückt mit roten Schleifchen, roten kleinen Glaskugeln und goldenen Sternchen.
Es stand in einem roten Übertopf, in dem die elektrischen Kabelanschlüsse verborgen waren. In der Dämmerung gingen die kleinen Lichter von selbst an, denn auch an einen Dämmerungsschalter hatten die Hersteller gedacht.

Gedankenverloren saß die alte Dame in ihrem Sessel am Fenster, von dem aus sie einen Blick auf den Fluss hatte. Jogger rannten trotz der Kälte am Morgen und am Abend am Ufer entlang. Nachmittags kamen die jungen Mütter mit ihren wohlvermummten Babies im Kinderwagen.
Wie schön, dass man heutzutage für alle Wetterlagen das richtige Schuhwerk und die richtige Bekleidung hatte. Ein Frösteln überzog den Körper der alten Frau, denn es schlichen sich Erinnerungen in Ihr Gedächtnis und Gemüt, die mit Zeiten zu tun hatten, in denen Frieren und Hungern der Normalzustand waren. Nur nicht mehr daran denken, befahl sie sich, das ist alles vorbei.

Ich habe es ja so schön hier. Sie gestand sich ein, dass sie es noch nie so gemütlich und bequem hatte, ja dass sie noch nie so gut versorgt war wie hier. Alle meinten es gut mit ihr, sorgten vor allem für ihr leibliches Wohl. Aber es war doch nicht so, wie es hätte sein können, wenn Ihr Mann noch lebte. Wenn sie beide beide gesund geblieben wären, hätten sie in ihrem schönen Einfamilienhaus in einem ruhigen, grünen Vorort der Stadt hätten bleiben können, möglichst bis an ihr Lebensende. In ihren Vorstellungen ging sie natürlich davon aus, dass sie beide bei guter Gesundheit trotz ihres Alters Weihnachten selbst gestaltet und miteinander gefeiert hätten. Dass es in der Realität möglicherweise anders hätte sein können, das konnte sie ja jetzt in ihrem gemütlichen Sessel tagträumend einfach ausklammern. Deshalb feierte sie in Gedanken eine Weile -so zwischen Tag und Dämmerung- Weihnachten wie früher, mit gebratener Weihnachtsgans im Ofen, einem raumhohen Weihnachtsbaum mit sehr vielen riesigen Glas und Goldkugeln, mit Lametta, Glasbläsereien aus dem Erzgebirge. Vor allem liebte sie diese Vögelchen, aus deren Schwanzgefieder ein kleiner weißer Busch Schwanenfedern ragte. Unmengen von selbst gebackenem Weihnachtsgebäck in schönen Kristallschalen standen auf dem Tisch und unter dem Baum. Ein Hauch von Trauer schlicht ihr ins Gemüt.

Dass sie selbst früher an Weihnachten am Ende ihrer Kräfte gewesen war, weil sie allein all diesen Zauber veranstaltet, sich mit der riesigen toten glitischigen Weihnachtsganz abgemüht und wochenlang all die guten Naschereien gebacken hatte, das klammerte sie nun einfach aus.
Ihr alt gewordenes Gedächtnis unterstützte sie in der Absicht, ungute Ereignisse einfach zu unterschlagen. Deshalb konnte sie, wie die anderen Mitbewohner des Pflegeheimes guten Gewissens behaupten, dass früher alles viel schöner und besser gewesen war.

Inzwischen war es so dunkel geworden, dass das schlaue kleine Kunstbäumchen seine elektrischen Kerzen im kleinen, wohnlich eingerichteten Zimmer leuchten und die Kugeln glitzern ließ. Es wirkte sanft und ein wenig erheiternd auf die Stimmung der alten Dame ein und die Erinnerungen an früher waren weg, von einem Moment zum anderen. So ist das ja häufig bei Menschen mit beginnender Demenz. Deshalb war sie hier, weil sie ein wenig Unterstützung und Fürsorge brauchte und man ein Auge auf sie haben musste. Innerhalb ihres Zimmers war sie sicher auf den Beinen, konnte vieles noch selbst machen. Trotzdem gab es Tage, an denen alles anders war und sie Hilfe brauchte und versorgt werden musste.

Eine junge Helferin machte kurz das Licht an und stellte das Abendessen mit Schwung auf das kleine Tischen vor der Frau am Fenster. „Na Frau Brehm, sie träumen wohl wieder von früher“, sagte die nette junge Frau. „Jetzt müssen sie aber kurz aufwachen, sonst wird der Tee kalt und die Wurst auf dem Brot warm“, scherzte sie und rückte Frau Brehm den Sessel zurecht. Danach zog sie das Tablett mit Brot, Butter, Wurst und Käse in Reichweite näher heran, wickelte das Besteck aus und reichte es der alten Frau. „Ich komme allein zurecht“, sagte Frau Brehm und begutachtete das Angebot auf dem Tablett. Sie wusste nicht so recht, ob ihr das schmecken würde, was sie da sah. Sie wusste auch nicht mehr, dass sie jederzeit einen Grießbrei oder Reisbrei haben könnte, wenn sie es verlangte. Deshalb sah sie sehr unentschlossen auf die ansprechend aussehende Auswahl vor ihren Augen.

„Dann lassen Sie es sich mal schmecken, Frau Brehm“, schallte es inzwischen aus der Richtung der Zimmertüre. So schnell konnte Frau Brehm gar nicht „danke“ sagen, wie die Helferin verschwunden war.

Das erleuchtete Bäumchen zog Frau Brehms Blicke auf sich und auf einmal fing sie an, sich an einen Weihnachtstag in ihrem Leben zu erinnern, der mit einem sehr kleinen Weihnachtsbaum zu tun hatte.
Sie sah sich in einem großen, schönen Auto in der Dämmerung an der Seite eines Mannes eine steile Straße zwischen hohen, dunklen Tannen entlangfahren. Ach ja, das musste wohl ihr Mann gewesen sein, sie pflegte ja nicht mit fremden Männern in der Gegend herum zu fahren.
Plötzlich hielt das Auto an einer Ausweich-Bucht. Willst Du mitkommen, rief der Mann. Er lachte verschmitzt wie ein kleiner Schuljunge, der kurz vor der Ausführung eines Streichs war. Sie blieb lieber im Auto, ihr war mulmig zumute, denn sie ahnte, was der Mann vor hatte. Es war ja der Nachmittag des 24. Dezember. Sie waren auf dem Rückweg von ihrer sehr kurzen Hochzeitsreise in den Schwarzwald. Wie schön wäre es gewesen, wenn sie hätten bleiben können und dort die Weihnachtsfeiertage verbringen. Leider mussten sie zurück, da zu Hause der betagte Schwiegervater auf sie wartete, der nun mit ihnen leben sollte, da die Schwiegermutter vor ein paar Monaten gestorben war.

Inzwischen kam ihr abenteuerlustiger Mann keuchend und mit verdreckten Schuhen und Hosenbeinen die Böschung heruntergerutscht. In den Händen hielt er ein winziges Tannenbäumchen (mit Wurzeln und Erde) und er sah sehr stolz und glücklich aus. „Das ist Diebstahl“, sagte die junge Frau, und hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen. „Das ist sozusagen Mundraub“, erwiderte der stolze Ritter vom Orden der Weihnachtsbaumräuber. „Wo hätten wir denn heute noch einen Baum besorgen sollen?“, es ist doch schon nach 18 Uhr. Und Weihnachten ohne Weihnachtsbaum, unmöglich!

Einerseits waren sie nun beide froh, ein Weihnachtsbäumchen zu haben, andererseits fühlten sie sich doch etwas als Naturschänder und Gesetzesübertreter. Die junge Frau überlegte schon, wie sie das winzige Ding schmücken sollte. Sie stellte sich vor, wie gemütlich es doch noch werden könnte heute Abend mit Schwiegervater und Ehemann.

Schwer seufzte jetzt die alte Frau Brehm in ihrem Sessel und hätte am liebsten den Fluss der Erinnerungen unterbrochen. Aber unermüdlich lief der innere Film weiter und zeigte den Rest des damaligen Abends. Denn es sollte ein sehr arbeitsintensiver Weihnachtsabend werden.

Ein riesiges Paket wartete zu Hause neben dem alten Schwiegervater in der Diele. Die fränkischen Cousinen ihres Mannes hatten ein Weihnachts- und Hochzeitsgeschenk gleichzeitig geschickt. Es war eine echte Überraschung: Ein monstergleiches Ungeheuer von einem bereits gerupften, kalten, toten Truthahn war sorgfältig eingepackt. Die Innereien in einem Behältnis daneben. Weder sie oder ihr Mann noch der Schwiegervater hatten je ein so großes Tier gesehen, geschweige denn zubereitet.

Endgültig scheuchte nun die jetzige, gut versorgte, glückliche Heiminsassin Brehm die Gedanken weg. Nein, daran wollte sie sich nicht mehr erinnern. Den Kampf mit dem Truthahn, dem Backofen im Gasherd, der schmutzigen, fettverschmierten Küche, den wollte sie nicht mehr so genau betrachten. Nein, das war vorbei. Nun machten andere den Weihnachtsbraten für sie. Das Bäumchen hatten ihr die Kinder gebracht, ein elektrisches Weihnachtsbäumchen, sagten sie, denn echte Kerzen darf man hier nicht anzünden.

Dankbar und glücklich blickte Frau Brehm in diesem Moment zu dem zwar kitschigen, aber sehr weihnachtlich leuchtenden Bäumchen auf dem Beistelltisch im Zimmer ihres jetzigen Lebens im Pflegeheim. Es sah so lieb, so traulich und weihnachtlich aus. Sie fiel vor Glück in einen kurzen Dämmerschlaf, aus dem sie eine halbe Stunde später die nette Pflegerin holte.

„Möchten Sie vielleicht doch lieber einen Grießbrei, Frau Brehm“, fragte sie mit einem herzlichen Lächeln und einem verständnisvollen Blick.

Ja, Weihnachten im Pflegeheim, das ist eine besonders erinnerungsreiche Zeit. Man hatte hier viel Verständnis für die gedanklichen Abschweifungen der Bewohner, besonders an den Weihnachtstagen. Da konnte das warme Essen schon mal kalt oder die kalte Platte warm werden.

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