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Der Fliederbaum

Von Feierabend-Mitglied Mittwoch 19.04.2023, 19:53



Sie hat es wieder getan!
Wie soll ich ihr das erklären, begreiflich machen, dass ich mir nicht wünsche, diese Fliederblüten auf meinem Tisch zu sehen, zu riechen.
Wie schnell verlieren sie die Lebenskraft. Viel zu schnell. Das zu beobachten ist sehr bedrückend. Auch, wenn die Vase morgens und abends mit dem frischen Wasser gefüllt wird, stoppt das nicht den Prozess des Absterbens.
Nein, wie stur die alte Frau ist. Warum tut sie das? Um mich an die Zeit zu erinnern, die noch heute, nach so vielen Jahren, so schmerzhaft ist? Mein Herz fühlte sich damals, wie durch einen Fleischwolf gedreht.
Sie selbst hat doch auch erlebt, was damals passiert war. Auch sie selbst war nicht ganz unschuldig daran. Sie sollte auf den kleinen Georg aufpassen. Er spielte auf der Veranda, als wir zu den Nachbarn fuhren, um bei der Ernte zu helfen.
Es war sehr heißer Sommer. Das Temperaturen erreichten mittags über 40 Grad. Ältere Menschen und Kinder blieben im kühlen Räumen, die man verdunkeln hat, um die Hitze nicht reinzulassen.
Hinter der großen Scheune in dem Weiher haben wir ihn gefunden. Er war wahrscheinlich ausgerutscht und konnte sich nicht mehr helfen. Von Weiten sahen wir die kleinen Beinchen aus dem Wasser herausragen. Mit seinen 18 Monaten summte er so gerne das Lied „Alle meine Entchen“ und in passenden Momenten zeigte mit seinen kleinen speckigen Ärmchen nach oben oder nach unten. Im Wasser zu schwimmen, was das bedeutet, nein, das hat er damals noch nicht verstanden.
In der Wohnstube wurde der kleine weiße Sarg aufgebahrt und verschwand beinnahe in dem Meer der duftenden Fliederblüten. Das Leichentuch, der Flieder und der Duft - das sind die Bilder, die in meiner Erinnerung geistern.
Aber sie macht das immer wieder und wieder? Will sie ihre Schuld eingestehen? Auf diese Weise?
Dann sollte sie den Fliederstrauß in ihrem Zimmer stellen. Was will sie dadurch erreichen? Jedes Jahr habe ich keine Freude an diesen Blüten. Im Gegenteil, meine Trauer erfasst mein Inneres noch stärker, dringt in die Tiefe, an die Stelle, wo eine Mutter am meisten den Schmerz empfindet.
Sie weiss es noch nicht, aber ich habe mir vorgenommen im kommenden Herbst die ganze Gartenecke aufzuräumen und den Fliederbaum zu entfernen. Damit auch das Leben in diesem Haus eine Chance bekommt.
Der Baum ist Schuld an meiner düsteren Erinnerung. Der Baum muss weg. Die Erinnerung bleibt jedoch in meinem Herzen gut aufgehoben, still, sanft und engelhaft.

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