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Das Glöckchen

Von Pinnacle Dienstag 26.05.2020, 14:57

Das Glöckchen
Joa Bosch ©BJS

Prolog

Der 30jährige Krieg, das war nicht ein Krieg, sondern viele Schlachten, wobei die Truppen fast in ganz Westeuropa - hin und her - unterwegs waren. Das Leben der einfachen Menschen war in dieser Zeit ständig bedroht. Die Kriegsgegner zogen kämpfend, mordend und brandschatzend durch Europa und brachten unermessliches Leid mit sich. Dazu kam noch, dass in vielen Teilen die Menschen auch ihre Religion aufgeben und eine neue annehmen mussten. Da die Bevölkerung im 17. Jahrhundert sehr religiös - ja zum Teil abergläubisch religiös - waren, stürzte dies viele in Haltlosigkeit und Zerrissenheit. Es waren 30 dunkle Jahre!
"Der 30 jährige Krieg": www.welt-geschichte.de

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Der fahrende Tuchhändler Ekibald der Ältere war es, der die schreckliche Nachricht an Heilig Abend 1632 in die kleine katholische Pfarre St. Quirin im Vischeltal brachte. Der abgelegene Ort in der Eifel war bisher von den Wirren des Krieges 14 Jahre lang verschont geblieben. Pfarrer Arnoldus hielt täglich Dankgottesdienste ab und seine Schäfchen beteten jedes Mal inbrünstig zum Herrn um Erhalt des örtlichen Friedens.

Zu diesem Zeitpunkt wurden im 125 Meilen entfernten Stadt Münster schon erste, jedoch ergebnislose Friedensverhandlungen geführt. Alle Menschen sehnten sich nach Ruhe und Ordnung. Aber des Tuchhändlers Nachricht von der Einnahme des nah gelegenen Dorfes Sinzig am 11. Dezember 1632 durch schwedische Truppen, machten an alle Hoffnungen mit einem Schlag zunichte. Das Schwedenheer hauste dort fürchterlich und der Ort, der sich gerade von der Pest erholt hatte, war grausam gebrandschatzt und geplündert worden.

Pfarrer Arnoldus wusste genau, was in anderen Pfarren bei der Eroberung eines Ortes sich zutrug. Als erstes wurden von beiden Kriegsparteien die Kirchenglocken demontiert, eingeschmolzen und daraus Kanonen gegossen. Das wollte er dem Herrn und seiner Gemeinde ersparen.

Die einzige Glocke von St. Quirin war eher ein Glöckchen, mit der Inschrift: „Vivorum et mortuorum ego call“ – „Ich rufe die Lebenden und die Toten“. Und sie hatte ihre eigene Geschichte. Der Überlieferung nach wurde 806 nach Christus bei Rodungen im Vischeltal eine Bronzestatue gefunden. Es handelte sich dabei um „Hel“, die germanische Göttin des Todes. Im rechten Glauben und nach den „Zehn Geboten“ handelnd, wurde das Erste Gebot Gottes „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“ sofort befolgt. Die gläubigen Finder zerschlugen die heidnische Figur, brachten die Fragmente in die Stadt Münster, wo sie eingeschmolzen und dann von einem Glockegießer in Form gebracht wurde. Anscheinend war der Guss nicht besonders gelungen, denn der Klang war nicht volltönend, ja eher jämmerlich.

Am Fundort der Statue errichteten Klausner ein kleines Kirchlein zu Ehren des heiligen Quirin und das Glöckchen fand im Turm seinen Platz. Später siedelten sich dort Waldbauern an und es entstand so der Weiler St. Quirin, der späteren gleichnamigen Pfarre. Seitdem ertönte bei jeder Taufe, Firmung, Hochzeit oder Beerdigung das Glöckchen. Und gerade dann, wenn einem die letzte Stunde geschlagen und Gevatter Tod denjenigen zu sich geholt hatte, jammerte das Glöckchen der armen Seele nach.

Nein! Das Schicksal des über 800 Jahre alten Geläuts, eine Kanone zu werden, durfte einfach nicht sein. Pfarrer Arnoldus holte mit Hilfe aller Einwohner das Glöckchen nächtens aus dem Kirchturm, und man vergrub es heimlich in dem nah gelegenen Acker des schwerkranken Bauern Radulf Kreutzthaler. Dann nahm der Pfarrer allen Bürgern bei der Beichte das Versprechen ab, Stillschweigen über den Verbleib des Glöckchens zu bewahren.

Die Kriegswirren wogten weiter hin und her, aber das Tal blieb von allen Gräueltaten dennoch verschont. Und welch Wunder, in der kleinen Gemeinde verstarb kein Mensch mehr! Auch nicht der todkranke Bauer Kreutzthaler. Keiner von den Schwachen, Gebrechlichen oder Unterernährten verschied - alle lebten weiter.
Es gingen fast sechzehn Jahre ins Land und so manch einer siechte nur noch vor sich hin. Dann, am 24. Oktober 1648, wurde der „Westfälischen Frieden“ in der Stadt Münster beschlossen und es kehrte in alle Länder wieder Ruhe und Ordnung ein.

Die Nachricht vom Ende des Krieges erreichte auch bald die Pfarre St. Quirin. Sofort grub man das Glöckchen aus und schaffte es zu dem Kirchlein. Vor dem feierlichen Gottesdienst wurde es wieder an seinen angestandenen Platz gebracht. Und als beim Sanctus der erste Glockenschlag erklang, geschah Ungeheuerliches – fast die Hälfte der Gemeinde, ob in der Kirche anwesend oder nicht, sank danieder und verstarb sofort.

Was niemand wusste, keinem hatte mehr die Stunde des Todes geschlagen, weil ja das fehlende Glöckchen Jahrelang geschwiegen hatte.
Jetzt rief es nicht nur die Lebenden und Verstorbenen, sondern auch die schon längst sterbefälligen Toten zum Gehen.

Oder war es bei den Letzteren vielleicht doch die heidnische Göttin „Hel“, deren Mythos in dem bronzenen Glöckchen für immer eingeschmolzen, die immer noch die ausstehenden Toten zu sich rief?

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