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Daheim - oder: Das kleine Glück

Von Reineke1794 23.01.2022, 08:01

Obwohl es bereits auf 10 Uhr geht, wird es draußen nicht heller. Im Gegenteil, die dunkle Wolke scheint sich noch zu verdichten. Peter steht am Fenster und blickt auf die Straße. Die ersten Flocken an diesem Wintertag bleiben jetzt liegen. Es mögen ein oder zwei Grad über Null sein, wie es in den Nachrichten auch angesagt worden war. Das Tanzen der Flocken wird jäh von einer Windböe unterbrochen, die dem Schneefall vor dem Fenster jetzt eine Richtung gibt, nämlich nach rechts zur Rosenstraße runter. Westwind also, konstatiert Peter. Innerhalb weniger Minuten hat sich auf dem Bürgersteig ein weißer Belag gesammelt. Noch vermögen die Fußgänger die dünne Schicht zu zertreten, wenn sie ihre Füße darauf setzen. Eines ist allen Fußgängern gemein, ganz gleich, ob sie mit oder gegen den Wind marschieren: Sie scheinen alle ihre Schultern hochgezogen zu haben, bemühen sich offensichtlich, schnell voranzukommen, um dem Schneetreiben möglichst bald zu entrinnen. Manche haben den Kragen ihrer Mäntel oder Jacken hochgestellt und andere haben die Kapuzen über den Kopf geschoben, so weit ihre Kleidung über solch praktisches Accessoire verfügt.
Der Flockenwirbel vor den eingeschalteten Scheinwerfern der Autos, die im Augenblick relativ langsam durch die Straße fahren, ist faszinierend, da bei den Böen die Schneeflocken himmelwärts zu treiben scheinen und dies, indem sie sich wie in kleinen Windhosen zu drehen beginnen. Obwohl das Fenster geschlossen ist, nimmt Peter durchaus die Veränderung der Geräuschkulisse vor dem Haus wahr. Es scheint ruhiger zu werden da draußen. Je mehr Schnee auf den Bürgersteigen und Straßen sich anhäuft, desto stiller wird es. Das ungeduldige Hupen mancher Autofahrer bleibt jetzt tatsächlich aus. Auf der Straße sind deutlich die Fahrrinnen der Fahrzeuge zu sehen. Trotz des verringerten Tempos der Autos, werfen die Reifen, den sich unter ihnen häufenden Schneematsch zur Seite, so dass die Fußgänger nicht nur ihren Trampelpfad im Auge behalten müssen, sondern auch auf mögliche Spritzer von der Straße her zu achten haben. Eine junge Frau verliert bei dem Versuch, einem alten Herrn mit Rollator auszuweichen, beinahe das Gleichgewicht, reißt den gelben Regenschirm nach oben, den sie in der linken Hand hält und vermag vermutlich durch diese Bewegung einen absehbaren Sturz zu vermeiden.
Peter fröstelt geradezu, als er beobachtet, wie einige Passanten ihre Ellbogen schützend vor ihr Gesicht halten, als eine neuerliche Windböe ihnen den Schnee geradezu in dieses zu peitschen scheint, weil sie eben gegen den Wind anzulaufen haben.
„Ohne mich“, denkt Peter. „Raus gehe ich dann eben erst später oder morgen. Das muss ich jetzt nicht haben.“ Zufrieden dreht er sich um, entfernt sich vom Fenster, setzt sich in seinen Sessel und greift nach dem Roman – ein Geschenk seiner Tochter – der ihn nun schon seit Weihnachten so sehr fesselt. „Tja, das kann ich mir nun mal erlauben, denn schon seit Jahren bin ich nicht mehr berufstätig und genieße diesen Zustand so gut es eben geht. Glücklich bin ich ja nicht immer über dieses Rentnerdasein, da die mittlerweile gelebten Jahre zunehmend auf ihre Anzahl, ihre „Gewichtigkeit“ zu pochen scheinen. Einige der bisherigen Selbstverständlichkeiten im Hinblick auf mein Wohlbefinden haben sie mir eh schon weggenommen, ja regelrecht geklaut,“ bestätigt sich der alte Herr.
Heute ist sich Peter jedenfalls wieder einmal der Vorzüge seiner gewonnenen Freiheiten bewusst. Das Knacken im Heizkörper scheint bestätigen zu wollen, dass es angenehm warm ist in dem Raum. Die Stehlampe hinter ihm spendet ein warmes Licht, denn draußen tobt nicht nur ein kleiner Schneesturm, sondern auch die Dunkelheit mag sich einfach nicht verabschieden, an diesem nasskalten, stürmischen und da draußen so ungemütlichen Tag. Peter öffnet das Buch, entnimmt diesem ein Foto, das seine Enkel zeigt und ihm als Lesezeichen gedient hat. Schmunzelnd blickt er auf die drei Kinder, um dann das Bild beiseite zu legen. Noch bevor er seine Brille aufsetzt, greift er nach einer Weinbrandbohne in dem aufwändig gestalteten Geschenkkarton, der auf dem Beistelltischchen liegt und schiebt sich diese in den Mund. Nein, nicht so nebenbei, sondern ganz bewusst und genüsslich, denn „ein wenig Sünde muss schon sein, wenn ich das Wohlgefühl so richtig auskosten möchte,“ überlegt Peter. Erst dann konzentriert er sich wieder auf den Inhalt des Romans, der ihn in eine ganz andere Welt entführt, die nichts, aber auch gar nichts zu tun hat mit dem Schneematsch da draußen, den kräftigen Windböen und all den Unannehmlichkeiten dieses unfreundlichen Wintertages.
Alsdann streckt Peter seinen linken Arm aus, greift mit zwei Fingern seiner Hand - ohne hinzusehen - jedoch zielsicher nach dem Karton mit den Weinbrandbohnen, hangelt eine heraus und schon verschwindet auch diese in seinem Mund. Wohlig ruckelt er sich ein wenig in seinem Sessel zurecht, so als wünschte er, noch tiefer im Polster zu versinken, seufzt kaum hörbar und vertieft sich wieder in das Geschehen dieser anderen Welt, über das ihm der Roman erzählt.

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