Auf der Demo
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Feierabend-Mitglied
Mittwoch 05.02.2025, 14:14
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(Auszug aus meiner Autobiografie)
Salzburg an einem ganz normalen Tag im Frühling 1969.
Es war frisch und regnerisch. Ich stand an der Ecke Saint Julienstraße / Elisabethstraße, unweit der Heimstätte der Kommunisten und wunderte mich, dass eine Partei ohne nennenswerten Zuspruch im Land sich ein derart großes Haus als Parteizentrale leisten kann. Vor dem Gebäude hatte sich eine überschaubare Menschengruppe zu einem Protestzug formiert. Ein Sprecher vom Typ ‚ewiger Student’ mit Megafon in der Hand stand an vorderster Front unter einem Transparent mit der Aufschrift: ‚Es lebe der Widerspruch‘ und warb um Zustimmung. Er forderte die Fußgänger auf, bei seiner Demo mitzumachen. Das Interesse hielt sich allerdings in Grenzen, also versuchte der Megafon-Typ die Leute am Straßenrand mit einer Belohnung zu ködern. Er versprach allen, die mitmachen würden heiße Würstel und als besonderen Anreiz für Personen wie mich – Freigeister, Studenten, Rentner et cetera – ein Taschengeld nach der Demo zu bezahlen.
Zehn Meter weiter von mir stand eine schlanke, rothaarige Frau. Ich schätzte sie auf etwa fünfunddreißig Jahre. Sie wirkte unentschlossen, anscheinend dachte sie das Gleiche wie ich: ‚Was soll das Ganze?’ Unsere Blicke trafen sich, sie zögerte kurz, schüttelte ihren Rotschopf und kam mit entschlossenem Lächeln auf mich zu.
„Da bist du ja Kollege“, sagt sie und sah mich an wie ihren leibhaftigen Erlöser. Ich schaute mich um – aber nein – sie meinte tatsächlich mich. Ich war verwirrt, spürte ein flaues Gefühl in der Magengegend. Sie duzte mich. Ich hatte keine Ahnung, wer sie sein könnte, und setzte mein vermeintlich arglosestes Gesicht auf, man weiß ja nie.
„Jetzt schaust du fast wieder so wie gestern!“
„Gestern?“
„Ja in der Blutbank. Sie haben dich getestet vor der Blutplasmaspende. Ich war schon am Pumpen und habe in dein Gesicht gesehen, als sie dich abgelehnt haben. Du hast so traurig und enttäuscht gewirkt. Ich habe mit dir gefühlt. Sicher hast du mit dem Geld gerechnet, genau wie alle anderen, die dort hinkommen.”
„Ach so, das meinst du. Ich erinnere, du lagst auf der Liege vis á vis von mir.“ „Was war los?“
„Mein Blutbild hat nicht den Standards entsprochen. Der Doc war skeptisch.“ „Du Armer! Was treibst du denn sonst so?“
„Siehst du ja, ich stehe hier herum und belächle diese kümmerliche Demo.“ „Und überlegst dir, ob du das Angebot mit den Würsteln und dem Taschengeld annehmen sollst. Stimmt’s?”
„Ja, aber ich schäme mich mitzumachen. Außerdem fängt es zu regnen an.“
„Wie heißt du eigentlich?“
„Ferdinand.“
„Und ich bin die Melitta, habe einen Regenschirm und nichts gegen heiße Würstel einzuwenden. Komm Ferdinand, hake dich bei mir ein: Wir machen mit!“
Ich war perplex, zögerte eine Sekunde. Melitta war einfach umwerfend. Vielleicht ein wenig verrückt. Für eine Frau zu kumpelhaft? Ich war kurz davor, mich über ihren Namen lustig zu machen. Von wegen Kaffeefilter und so. Hätte auch nicht gepasst zu ihr – ungefiltert, wie sie war.
„Okay”, sagte ich, „aber nur wenn wir keine Parolen mitbrüllen.“
„Das habe ich eh nicht vor, Ferdinand. Weißt du was? Wir lassen die anderen machen und erzählen uns unterm Schirm unsere Geschichten. Magst du?“ „Einverstanden. Auch wenn ich nicht weiß, was ich dir erzählen soll.”
Meine Gedanken kreisten: Was will diese Frau von mir? Wie sollte ich die Einladung, unter ihren Schirm zu schlüpfen, deuten? Ich bin zwar ein Romantiker, aber ein Nebeneinander unterm Regenschirm? Das verlangt Vertraulichkeit. Gibt es so was überhaupt noch, fragte ich mich. Die Antwort war: Nein, ich suche keine Bekanntschaft. Nicht jetzt. Mir fehlte das Timing. Ich glaubte momentan nicht gesellschaftsfähig zu sein. Innerlich. Äußerlich täuschte die Fassade.
Aber da war dieses entwaffnende Lächeln von Melitta. Keine Chance zu kneifen. Noch bevor ich den ersten Satz über die Lippen bekam, war klar, dass ich mit meiner Zurückhaltung bei ihr nicht durchkomme.
Seit ich meinen letzten Job aufgegeben hatte, wohnte ich inkognito auf einer Baustelle! Immerhin in einer historischen Vorstadt-Villa, die einem bekannten Schauspieler gehörte. Die Villa diente jahrelang Salzburger Studenten als Wohngemeinschaft. Jetzt wurde sie von Grund auf renoviert – von mir – und anderen Schwarzarbeitern. Keinen festen Job zu haben ist eine denkbar schlechte Ausgangslage für eine Beziehung, mit wem auch immer.
Wir sahen uns an – face to face feeling – sprachen Belangloses, Einführendes, Aufwärmendes. Worte, die man spricht, wenn man bei null ist und den Weg sucht. Aber wir fanden ihn schnell. Da war nichts Befangenes, nichts Eiliges, nichts Schales. Nicht die allerkleinste Spur davon. Unsere Hände berührten sich am Griff des Regenschirms, unsicher, welche von uns beiden nun den Schirm halten soll. Unsere Finger griffen ineinander. In ihrem Gesicht las ich denselben Widerstreit der Gefühle, den ich in mir spürte. Dann plötzlich ein befreiendes Lachen, das nicht mehr aufhören wollte. Nichts hörte auf, etwas begann gerade.
Melitta sagte: „Wir befinden uns mitten in einer Demo, von der wir nicht wissen, um was es geht. Wogegen oder wofür demonstrieren wir eigentlich?“ „Hör genau hin, Melitta, sie brüllen mit viel Trara Parolen wie: ‚Zerstört, was euch traurig macht …’ oder ‚Bezahlbare Wohnungen für alle’. Sieht so aus, als wären wir unter lauter Hausbesetzern.“
„Ja kann sein. Ist aber egal – uns geht es doch um die heißen Würstel, oder?“ „So ist es, Melitta. Aber je mehr ich darüber nachdenke, … gehöre ich im weitesten Sinn dazu. So verkehrt bin ich da gar nicht.“
„Wieso? Was hast du mit Hausbesetzern zu tun?“
Ich wollte ehrlich sein und erzählte ihr mit Herzklopfen und auf die Gefahr hin, dass ihre Sympathie für mich abrupt zu Ende gehen könnte, einen Teil meiner Geschichte. Melitta war ganz still geworden. Ich spürte, wie sich ihre Finger in meinen Arm krallten. Sie wollte stehen bleiben, mich anhalten, mir in die Augen schauen, aber der Tross der Demonstranten schob uns gnadenlos weiter. Ganz leise flüsterte sie mir ins Ohr: „Du bist aus dem Nest gefallen, genau wie ich. Das habe ich gestern schon in deinem Gesicht gelesen.“
„Bist du Hellseherin?“
„Nein, ich bin Melitta, die genau wie du gerade versucht, Fuß zu fassen.
Unbeeindruckt vom grölenden Geschrei der Demonstranten versuchten wir das, was wir zu spüren glaubten, in Worte zu fassen. Wir hielten uns unter dem Regenschirm wie an einem Anker fest und merkten gar nicht, dass es nicht mehr regnete.
Als ich nach oben in die Bespannung von Melittas Schirm schaute, kam mir plötzlich ein märchenhafter Gedanke. Was wäre, wenn so ein Regenschirm erzählen könnte, was er im Laufe seines Beschützerlebens alles mitansehen und mithören darf und muss. Bei diesem Gedankenflug hatte sich vermutlich ein völlig entrücktes Mienenspiel in mein Gesicht gezeichnet, denn Melitta fing zu kichern an. „Was ist denn mit dir los? Hast du eine Erscheinung oder was?”.
„Na ja, manchmal bin ich eben ein bisschen verrückt“, sagte ich und erzählte ihr von meiner Fantasie. Das gefiel Melitta. Ihr görenhaftes Kichern verschwand und mit ernstem Ausdruck sagte sie: „Du bist ein interessanter Mann, Ferdinand.”
Ich sah sie mit einem schrägen Seitenblick an. Verarscht sie mich jetzt grade? Auf einmal war mir wichtig, wie sie über mich denkt. Und natürlich wollte ich ein bisschen mehr über sie erfahren. Ich fragte: „Machst du mit bei einem Spiel?”
„Was für ein Spiel, Ferdinand?”
„Du sagtest doch, bevor wir unter diesen hübschen Schirm schlüpften, dass wir die Zeit vertreiben, indem wir uns Geschichten erzählen. Richtig?”
„Ja. Haben wir.”
„Falsch. Nicht wir – ich habe erzählt. Von dir kam nicht so viel. Ich habe eine Idee, wie wäre es, wenn du eine kurze Geschichte über dich aus der Warte deines Regenschirms erzählen würdest. Was glaubst du, würde er erzählen wollen?”
„Echt jetzt? Und du lachst mich nicht aus?”
„Niemals, ich schwöre!”
„Also gut. Ich versuche es. Aber damit das klar ist - es ist die Sicht des Schirms - nicht meine. Ich gebe ihm nur meine Stimme.”
Sie ist mutig, dachte ich.
*
Dann begann sie mit gesenkter Tonlage im Sinne ihres Schirms zu sprechen:
„Melitta und ich, wir sind ein seltsames Paar. Wenn ich’s recht bedenke, bin ich nicht mehr als Mittel zum Zweck. Ja, sie liebt mich, aber nur sporadisch. Ich gebe zu, das schmerzt. Andererseits ist es meine Aufgabe, sie immer dann zu beschützen, wenn sich der Himmel verdunkelt. Doch nicht nur. Es gibt auch erfreuliche Zeiten. Wenn Melitta besonders gut drauf ist, kann es schon mal vorkommen, dass ich zum Tanzpartner werde. Dann greift sie nach mir und ich entfalte mich höchst entspannt zu einem strahlend roten Parapluie. Das sind unvergessliche Momente, wenn wir zwei ein spritziges Samba-Solo aufs Parkett zaubern, das so manchem Revuegirl zur Ehre gereichen würde. Uns zwei verbindet eine langjährige Gemeinschaft. Wir haben viel miteinander erlebt. Ich fühle mich als ihr Kumpel – bin stets für sie da – nicht nur wenn der Himmel weint. Okay, ich bin lediglich ein Regenschirm! Aber zuweilen weit mehr als ein schützendes Dach über Melittas hübschen Rotschopf.
Bis vor kurzem wohnten wir noch in Wien bei Frank Baumann, ihrem gewalttätigen Ex, der schon lange nicht mehr „ihr” Frankie war. Bei der letzten Auseinandersetzung mit ihm wurde ich zu Melittas verlängertem Arm. Sie umfasste meine kirschrote Bespannung und schmetterte dem tobenden Frankie den Bambusgriff über den Schädel, dass ihm Hören und Sehen verging. Das war definitiv seine letzte „Annäherung” mit Melitta. Dabei ist sie wahrlich keine Walküre, sondern eine grazile Frau die Gewalt in jeder Form ablehnt.
Wir – also Melitta und ich und ein Koffer voll Klamotten haben den renitenten Frankie für immer verlassen. Als Ziel für ein neues, besseres Leben wählte sie Salzburg, hier wurde sie vor neununddreißig Jahren geboren. Genau das ist es, was ich an Melitta so schätze – sie fackelt nicht lange herum. Sie nimmt, wenn es sein muss, die Sache selbst in die Hand und schaut nach vorne.
Jetzt sind wir also in Salzburg gelandet und es sieht nach Regen aus. Das gefällt mir naturgemäß – Melitta ist es egal, sie hat andere Sorgen, sie ist auf Jobsuche. Das erweist sich als schwierig, denn niemand sucht eine gelernte Schuhverkäuferin. Langsam, aber sicher geht das Geld zur Neige. Doch Melitta wäre nicht Melitta, hätte sie nicht eine Idee: nämlich die des Blutplasma-Spendens in einer kommerziellen Blutbank. Dafür gibt es Geld bar auf die Hand. So wie gestern.
Heute treffen wir zufällig im Elisabethviertel am Rande einer Demonstration diesen armen Kerl von gestern in der Blutbank. Sie wollte ihm Trost spenden, doch dann war er auf einmal weg. Jetzt steht er plötzlich da und erkennt sie nicht, als sie auf ihn zugeht.
„Da bist du ja“, sagt sie zu ihm und lacht ihn freundlich an. Der junge Mann ist verwirrt. Offensichtlich hat er keine Ahnung, wer Melitta ist. Die Falte zwischen seinen Augenbrauen wird tiefer. Er weiß nicht, was er sagen soll. Sie hilft ihm auf die Sprünge, dann erinnert er sich endlich. Er schaut Melitta zum ersten Mal direkt in die Augen und ein verlegenes Lächeln stielt sich in sein Gesicht. „Wie heißt du eigentlich?“, fragt sie ihn ganz ungeniert.
„Ferdinand“, sagt er und Melitta denkt: viel zu lang. Ich werde ihn Ferry nennen, das ist kürzer und schöner.
„Ich bin die Melitta”, stellt sie sich ihm vor und lädt ihn ein, unter ihr Regendach zu kommen und bei der Demo mitzumachen. Es soll Würstel und sogar etwas Geld geben. Sie fordert ihn auf: „Komm, hak’ dich bei mir unter: Wir machen einfach mit!“
Der junge Mann ist perplex, zögert eine Sekunde, aber letztlich hat er gegen Melittas Charme keine Chance.
Jetzt komme ich in meiner Eigenschaft als Regenschirm ins Spiel. Melitta drückt auf den Knopf an meinem Griff und ich entfalte mein rotes Dach wie einen Baldachin über die beiden. Kann das eine Harmonie unterm Parapluie werden? Als passiver Dritter mache ich mir so meine Gedanken. Im Lauf der Jahre wurde ich zum Menschenkenner. Ausgangspunkt meiner Bewertung sind immer die Hände der Menschen. Wenn ich nur an die Pranken von Melittas Ex denke, dann wird mir schlecht. Da ist dieser Blondie, der Ferdinand heißt und höchstens Mitte zwanzig ist, von einer ganz anderen Sorte. Ich glaub, ich mag ihn. Ein Blick in seine Augen sagt mir, dass man ihm vertrauen kann. Melitta sieht das offenbar genauso. Wie die beiden sich anblicken, lässt mich für sie hoffen. Sie sprechen viel miteinander. Vielleicht um die Nervosität zu überwinden. Ich höre, wie er Melitta erzählt, dass er ein Handwerker ist, der am Schwarzmarkt fallweise Häuser renoviert und in diesen auch wohnt. Seufzend fügt er hinzu, dass diese Jobs nicht gerade zuträglich sind, Kontakte zu knüpfen.
Gespannt warte ich, wie meine 'Schirmherrin' auf seine Geschichte reagiert. Kurz darauf streicht sie mit den Fingern über seine Hand und säuselt ihm ins Ohr: „Du hast eher Künstlerhände als die eines Handwerkers.”
Er lacht verlegen. „Na ja, vielleicht bin ich ein Lebenskünstler.”
Melitta antwortet prompt: „Brauchen Künstler nicht eine Muse?”
*
Ich war beeindruckt von ihrem Vortrag in eigener Sache. Ich bat Melitta den Schirm zu halten, damit ich ihrer Darbietung applaudieren konnte. Ihr Gesicht wurde noch etwas röter, als es ohnehin durch die Bespannung des Schirms schon war.
Die Demo hatte ihren Höhepunkt erreicht. Wir waren am Alten Markt angekommen. Podest oder Bühne waren nicht zu sehen, der Megafon-Typ stand auf einer Bierkiste und brüllte nach wie vor seine Parolen unters spärliche Volk. Melitta bemerkte meine skeptischen Blicke. Sie zupfte mich am Ärmel und deutete nach hinten. Sie hatte die Gulaschkanone mit den kommunistischen Würsteln entdeckt. „Komm Ferry, stellen wir uns an, bevor die Würstel aus sind. Ich darf doch Ferry zu dir sagen?”