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Alles fließt

Von ehemaliges Mitglied Dienstag 02.06.2020, 13:08





„N“ für Nemec (Deutscher) auf der Armbinde, ein Treck von Leiterwägen, handgezogen, weinende Kinder und kopftuchverhüllte Frauen, ein schweigsamer Marsch durch Eiseskälte, Januar 1946, manchmal fällt ein schwarzes Menschenbündel in den Schnee, weiter,weiter,schon verschwindet der Kirchturm des kleinen Dorfes am Fuße des Altvaters aus dem Blickfeld, ein letztes Lebewohl aus leergeweinten Augen, Aufbruch ins Unbekannte, stundenlange ruckelnde Fahrt durch eisige Winterlandschaft, kaum ein Halt, zusammengepferchte Menschen in Viehwagonen, Frauen und Kinder, die Lok bläst weißen Dampf in den Himmel, der sofort zu Reifkristallen gefriert.„Mama, wohin fahren wir?“, die letzten Reichsmark sind eingeklebt ins Gebetbuch, hoffentlich merkt es keiner, Strohsäcke als Deckbetten, derbe Stiefeltritte tschechischer Soldaten, ab und zu stößt einer den Gewehrkolben in den Rücken einer Frau, Kinder plärren, hie und da ein Bahnhof, wieder frierende Menschen,“Wo bringen sie Mama hin?“, aus einem Wagon zotiges Lachen, Frauen verschwinden und werden zurückgebracht als zerbrochene Seelen, manche kommen nicht wieder, Tage um Tage,und immer die eisige Kälte, das Hungertuch liegt ausgebreitet über der gebrochenen Menge, Heimat, Heimat, ich seh' dich niemals mehr,
„Mama,wo bringen sie uns hin?“,Friedland, das Lager ist riesig, Hoffnungslosigkeit kann man riechen, Feldbetten, dünne Kohlsuppe, die Läuse spazieren über tausende Köpfe, Uringestank, langsam verstummen selbst die Kinder, die Frauen beten, Stunde um Stunde, „Oh Herr, warum hast du uns verlassen?“, wo sind die Väter, die Männer und Brüder?, „oh Herr, steh' uns bei“, die Zeit kriecht, Freundschaften werden kaum geschlossen, Leid verschließt die Münder, Mütter zählen jeden Abend ihre Kinder „seid ihr noch alle bei mir?“, und in Gedanken immer wieder das kleine Haus am Dorfrand, das Korn stand noch hoch im letzten Sommer, alles ist zerbrochen, tschechische Stiefel haben die Heimat zertrampelt, entehrt, genommen, was nicht ihnen gehört, die Hoffnung kriecht im Staub unter all den Betten,Wehklagen und Kohlsuppe, selbst die Sonne hat uns vergessen, der Winter will nicht enden, täglich kommen neue Menschen und der Tod steht neben der Tür und wartet, Schubsen, Schlagen und Treten, „Familie Müller, vorgetreten“,
Irgendwann kommt die Aufteilung, neue Züge, „Mama, ich hab' Angst“, wieder auseinander gerissen, ihr Heimatlosen, wohin mit euch?, vier Besatzungszonen, vier Himmelsrichtungen, irgendwo liegt Bayern, quietschende Bremsen, das Gebetbuch und die Strohsäcke als einziges Hab und Gut, auf einem Lastwagen verladen, auf dem noch der Geruch liegt vom letzten Schweinetransport, hinaus aus der Stadt, endlich wieder ein kleines Dorf mit einem Zwiebelturm, Dorfkinder begleiten gröhlend die Lastwagen, „Die Zigeuner kommen, die Zigeuner kommen“, in fremdklingendem Dialekt „wie hoisch denn du?“, eine armselige Möhre als Zeichen des Willkommens in einer Kinderhand, eine Bäuerin zieht mit finsterem Blick eine Kartoffelstaude aus der Erde, 20 m² für fünf Personen, das alte Schulhaus hat wenigstens einen Ofen, Mutter weint in den Strohsack hinein:“Heimat, leb' wohl.“

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