Flatterine von Schirm erinnert sich ...
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tastifix
Mittwoch 20.09.2023, 11:35
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tastifix
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Meinen Stammstock kann ich bis ins Jahr 802 zurück verfolgen. Damals spendierte nämlich ein Abt seinem Gast für die Heimreise ein tragbares Dach, einen Schirm, meinen Ur-hoch-x-Ahnen. Tatsächlich erreichte der Gast staubtrocken sein Ziel, der Abt hatte das tägliche Pflicht-gute-Werk geleistet und ohne es zu ahnen, der gesamten Menschheit einen unsagbaren Dienst. Denn die Kunde davon sprach sich schnell herum und jeder wollte ein solches Ding besitzen, unter dem man selbst bei prasselndem Regen keinen Tropfen abbekam.
Im Laufe der Jahrhunderte wurden meine Ahnen ständig leichter und dann geschah etwas, was die üblichen Arbeitsschirme, die sich dem harten, verbiegenden Kampf gegen Windböen und Regenguss stellten, wirklich auf die Palme brachte.
„Die spinnen ja!“
Mittlerweile schrieb man das Mittelalter. Das Volk war arm und schindete sich fast kaputt, denn die Adligen, die Fürsten und Könige wollten ja ein Leben in Luxus führen. In jeder Epoche entwickelten die oberen Zehntausende oft einen Spleen. So interessierten sich die feinen Damen der Gesellschaft auf einmal immens für Schirme. Selbstverständlich nicht für die groben, gewöhnlich schwarzen, sondern für überaus elegante weiße Schirmchen. Als besonders fein galten die, die im Stock sogar noch Fächer für Puderdose, Parfüm und Zigaretten besaßen.
Die Damen in den Rüschenkleidern hielten diese Witzfiguren von Schirmen in den weiß behandschuhten Händen, sorgsam darauf bedacht, nur ja keine Sonne ihr edles Antlitz treffen zu lassen.
„Wäre entsetzlich. Gar gewöhnlich!“
Nach jedem Spaziergang hetzten sie vor die fürstlichen Spiegel und prüften mit Lupenblick, ob sich ja kein bräunlicher Schimmer auf dem tadellos blassen Teint zeigte. Diejenigen, denen tatsächlich ein wachsbleiches Gesicht wie zuvor entgegen sah, wähnten sich auf der Karriereleiter der Vornehmheit sofort noch eine Stufe höher.
„Hach, mein Schirm ist der beste von allen!“
Und hatte denn doch ein gelbgoldener Strahl die Keckheit besessen, das zarte Antlitz zu streicheln, verbrauchte die betreffende Dame fast den halben Pudervorrat, um das entsetzliche Unheil zu kaschieren.
Damals kleidete sich die weibliche Oberschicht in bodenlange Gewänder ungeachtet sommerlicher Kochtemperaturen, denn der Anblick der wohlgeformten Beine blieben allein dem Ehemann oder auch dem Liebhaber in lauschigen Stunden vorbehalten. Der Hitze und dem Schweißgeruch begegneten die Damen mit Unmengen verführerischen Parfums. Zur Freude der Herren, die die verehrte Weiblichkeit bereits aus weiter Entfernung erschnuppern konnten. Manchen allerdings drohte wegen der Intensität des Wohlgeruches dabei fast eine Ohnmacht, die eigentlich eher den edlen Damen in prekären Situationen anstand. Man differenziert zwischen echten Ohnmachten, bei den schleunigst ein Arzt gerufen wurde und simulierten, die schnell entlarvt wurden, wenn man der betreffenden Weiblichkeit eine winzige Parfümflasche unter die Nase hielt. Hinter den weißen Schirmchen konnten sie, während sie sich scheinbar nur so ganz allmählich von der Umnachtung erholten, ihr Antlitz der Umgebung verbergen und so wenigstens noch ein bisschen das Gesicht wahren. Obwohl ja doch alle Bescheid wussten!
Zudem wurde diesen Schirmsnobs noch die besonders wichtige Aufgabe vergönnt, junge Damen während des ersten Spazierganges mit einem sorgsam ausgewählten Begleiter die Chance zu geben, in Sekunden extremer Verlegenheit sich dem Blick des Verehrer zu entziehen. Er hätte ja - ach, welche Schmach - eine unnatürliche und natürlich unerwünschte Röte erkennen können. So aber schwenkten die Damen, graziös in zierlichen Schuhen einher trippelnd, die Spitzen umrandeten weißen Dinger je nach Laune und Bedarf mit charmanten Bewegungen des Armes seitlich, vors Gesicht oder auch nach hinten und liefen beruhigt weiterhin weiß wie ein Leichentuch einher. Je kalkiger, umso vornehmer war man.
Die winzigen Möchtegern-Schirme spielten, wie es schien, nur zu gerne mit. Es hob ja ihr ohnehin weißes Image ins hoch weiße Image, verlieh auch ihnen ein ´Von`: Sie hießen ab dann von Schirm.
Ja, und dann folgte die Neuzeit. Plötzlich wollten alle möglichst braun durch die Gegend laufen und es wurde als fast blamabel angesehen, wenn Leute stattdessen bleich wie ein Gespenst einher schritten. Zumal es ja eventuell verriet, dass man weder Afrika, Ägypten oder gar Australien besucht hatte und selbst nicht das nächst bestehende Solarium. Beinahe empfinde ich Mitleid, denn für die edlen mittelalterlichen Schirme bedeutete es das Aus. Sie wurden aller höchstens noch zu Karneval präsentiert und für viele wars dann der letzte Ausflug. Kaputt und zerfranst verließen sie den Ort der Fröhlichkeit und landeten in der Tonne.
Doch gab es einen Hoffnungsschimmer für deren Nachfolger in der Oberschicht. Seit jeher legten viele Menschen auf ihr Prestige größten Wert. So fertigen sie nun Designerschirme, vorrangig welche mit ´K`. Diese Artgenossen sind ja zugegebenermaßen besonders stabil und von tollem Outfit. Ständig mehr ´K` begleiten, an ihrem Griff auf eleganter Plakette stolz ihren Designer angebend, die wachsende Schar der menschlichen Fans. Wer einen solchen Schirm besitzt, zählt dazu. Also meiner Meinung nach ist es lächerlich, wenn Zweibeiner es nötig haben, sich über Marken zu identifizieren. Ich denke: Mit deren Selbstbewusstsein kann es nicht weit her sein, oder??
Obwohl ich ja auch ´von` heiße, bin ich froh, ein üblicher Arbeitsschirm geworden zu sein, zumindest keiner mit ´K`. Wir tragen tagtäglich dazu bei, Schnupfen, Husten oder noch Schlimmerem die Chance zu vereiteln, Menschen für Tage oder Wochen ans Bett zu fesseln. Sagt selber: Kann es denn eine noch wichtigere Aufgabe für uns Schirme geben??