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Champs-Élysées nach Afrika in vierzig Minuten

Von Feierabend-Mitglied Samstag 08.08.2020, 00:28

Pariser Geschichten
Niemand wird ernsthaft bestreiten wollen, daß die glitzernde, leuchtende Champs - Élysées zu den herrlichsten Prachtstraßen dieser Welt gehört. Zigtausende Besucher flanieren täglich entlang der luxuriösesten Geschäfte diese Visitenkarte von Paris hinauf und hinunter.
Und doch gibt es eine Rückseite dieser schillernden Medaille, die die Touristen nicht wahrnehmen. Steigt man an den alten Hallen in die Metro und fährt in die Banlieue, die grauen Vorstädte am Rande der Stadt, kommt man in eine Welt, von der ich hier erzählen will.
Ende der sechziger Jahre arbeiteten in les Halles, den alten Markthallen von Paris, etwa sechstausend Menschen. Ich war einer von ihnen, am Obst- und Gemüsestand von Mr. Meurzec. Es gab über ein Dutzend große Hallen. Obst und Gemüse, Fleisch, Fisch, Blumen, Käse, Geflügel, Wild, alles hatte seine eigene Halle. Und in all diesen Hallen gab es eine ungeschriebene Arbeiterhierarchie. An ihrer Spitze standen die Franzosen. Sie waren für den Verkauf zuständig. Eine Stufe darunter rangierten ausländische Europäer, vor allem Holländer, Belgier; Italiener, Spanier und ein paar wenige Deutsche. Sie bedienten vor allem Einkäufer aus ihren Heimatländern oder englischsprachige Kunden, da die Franzosen sich beharrlich weigerten, eine Fremdsprache zu erlernen.
Darunter existierten die Maghrebiner, das waren die Jungs aus Algerien, Tunesien und Marokko. Sie waren die Spezialisten für den Standaufbau, für das Zusammenstellen der Bestellungen und den Abbau des Standes nach Feierabend.
Und dann gab es noch die Schwarzafrikaner auf der untersten Stufe der Arbeiterhierarchie. Sie fegten die Hallen, hielten die Stände sauber, beseitigten die Abfälle. Aber ein Monopol hatten sie, das sie eisern verteidigten: Sie fuhren die Elektrokarren, die die Waren zu den wartenden Autos der Kunden brachten. Sie waren namenlos. Niemand machte sich die Mühe, einen von ihnen nach dem Namen zu fragen. „He du, komm her, kehr das weg.“ „Eh Bimbo, mach hier sauber.“ „ Fahr das raus, das ist für….“ „Mach schneller, du Faultier“ So wurde mit ihnen gesprochen und ich übernahm gedankenlos den gleichen Jargon.
Ich rangierte ebenfalls auf einer Stufe ganz am Ende der Werteskala. Mein Reich waren meist die unterirdischen Kühlhäuser, die ich zu füllen und zu leeren half und sauber hielt. Es waren immer die gleichen Kollegen, die man hier in der Unterwelt antraf. Eines Tages, ich hatte mich gerade für eine Zigarettenpause auf eine der Nebentreppen verkrümelt, hörte ich ein Schluchzen und Schniefen. Es kam von hinter einem Stapel leerer Apfelkisten. Neugierig sah ich nach und zu meinem Erstaunen war es einer der schwarzen Karrenfahrer. Er saß zusammengekauert auf einer der umgedrehten, leeren Kisten und weinte herzzerreißend. Neben ihm stand ein zweiter und redete leise auf ihn ein.
Normalerweise standen sie auf dem Trittbrett ihres Elektrokarrens und fuhren mit blitzenden weißen Zähnen singend und lachend zwischen den Hallen entlang.
„Was ist los mit ihm?“ fragte ich. Sein Freund sah mich lange schweigend an. „Na gut“, sagte er, „dir kann man trauen. Seine Frau ist gestern abend gestorben. Er kann nicht frei machen, sonst verliert er die Arbeit.“ Morgen kommen sein Bruder und dessen Frau aus Lille. Sie wollen ihm helfen. Wir wissen aber nicht, wo sie wohnen können.“ „Bei mir ist Platz“, sagte ich. „Für ein paar Tage können sie bei mir wohnen.“
Und so begann meine Freundschaft zu den Afrikanern. Eines Tages luden sie mich ein, mit ihnen nach Hause zu fahren. Einer hatte Geburtstag. Und so fuhr ich mit ihnen mit der Metro hinaus in die Banlieue, die Vorstadt. Und auf einmal war ich in Afrika. Gerade mal vierzig Minuten vom Zentrum entfernt war eine exotische Welt. Man sah nur schwarze Menschen. Die Straßen wimmelten von lärmenden spielenden Kindern. Frauen in wallenden, bunten Kleidern mit kunstvoll gebundenen Kopftüchern kamen aus den Geschäften. Ein exotischer Duft von Gewürzen, gekochtem Kohl und trocknender Wäsche, die vor den Fenstern an abenteuerlichen Gestellen hing, wehte über das Viertel.
Dutzende arbeitslose Jugendliche lungerten an den Kreuzungen und Metrostationen. Von diesen Verstoßenen, Beiseitegeschobenen, die in das soziale Nichts gestoßen werden, wird das Verhalten pflichtbewusster Bürger erwartet, denen ein staatsbürgerliches Leben mit Pflichten und Rechten versprochen ist. In Wahrheit wurde ihnen doch jede Möglichkeit, irgendeine Pflicht zu erfüllen, genommen, und ihre bereits stark eingeschränkten Rechte werden mit Vergnügen verhöhnt. Welche Trauer, welche Enttäuschung bedeutet es, zu sehen, wie sie die Benimmregeln, den Anstandskodex derer verletzen, von denen sie abgeschoben, geduzt, beiseite gestoßen und, ohne lange zu fragen, verachtet werden! Wie betrüblich, dass sie die guten Manieren einer Gesellschaft, die auf so großzügige Weise ihren Abscheu gegen sie bekundet und ihnen dabei hilft, sich selbst als Außenseiter zu betrachten, nicht übernehmen!
In dieses Milieu also bin ich meinen Kameraden gefolgt. Die winzigen Wohnungen waren total überbelegt. Bis zu fünfzehn Personen lebten auf gerade mal fünfzig qm. Hier wurde heute Geburtstag gefeiert. Auf dem Herd kochten in einem riesigen Topf zusammen mit kleingeschnittenem Gemüse die Teile eines Hammels. Er hatte sich, wie mir der Gastgeber augenzwinkernd verriet, am Morgen beim Ausladen verlaufen.
Ich durfte mich ans Kopfende setzen. Als Ehrengast sozusagen. Und dann die größte Überraschung. Zur Tür herein kam, in einem festlichen traditionellen Gewand ein Mann, den ich kannte, auch einer der Karrenfahrer aus den Hallen. Alle verbeugten sich, küßten seine Hand und er grüßte in die Runde. Er war ihr Imam, ihr geistliches Oberhaupt.
„Karibu. Mungu iwe nanyi.“ Sagte er auf Suaheli. „Willkommen. Gott mit euch!“ wurde mir übersetzt. Und es wurde ein langer, fröhlicher Abend.
Von dem Tag an wußte ich, daß die schwarzen Männer der Hallen auch Namen haben. Der Imam hieß Josef. Und er führte seine kleine afrikanische Gemeinde unbemerkt mitten in Paris.

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