Die Medaille
Von ehemaliges Mitglied Mittwoch 21.10.2020, 09:00
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Diese Geschichte will erklären, wie ich ein „Gefangener Gottes" wurde. Am Ort meiner Rekrutenzeit erlebte ich den Zusammenbruch des Dritten Reiches. Ich wurde in die Kette der Gefangenen eingereiht, gezwungen, wider Willen, wie ein lahmer, gejagter Vogel. Wie Habakuk wurde ich am Schopf gepackt und an einen fremden Ort versetzt. Lager, Hunger, Schmutz, Leere, Verzweiflung, Massen, Sonne, Regen, Krankheit, Arbeit — alles widerte uns an. Wir hielten durch, weil wir unsere Gedanken austauschten. Wir klammerten uns an die Texte des Taschen-Messbuches, das uns geblieben war. Plötzlich entschloss sich mein Gefährte zum Studium der Theologie, das in einem Kamp bei Chartres eingerichtet wurde. Ein Pater gab mir den Hinweis, mich ihm anzuschließen. Ich erhielt einen fast neuen amerikanischen Militärmantel mit auf die Reise von 1000 Kilometer.
Von den 20 000 Gefangenen lebten einige Hundert ein eigenes Leben: Abbe Stock und seine französischen Freunde, ehemalige Häftlinge der Widerstandsbewegung. Sie lebten die Überwindung des Hasses an den Feinden von gestern, der Nuntius, der spätere Konzilspapst Johannnes XXIII., sie lebten das einfache Leben, die neue Erkenntnis aus dem Evangelium Christi, die selbstlose Liebe in der Gemeinschaft von Brüdern, sie bildeten den „Geist von Chartres", der mich allmählich erfasste und umwandelte.
In einer Fabrikhalle — zur Kapelle umgestaltet — steht eine Madonna, eine Nachbildung des schwarzen Bildes aus der Krypta der nahen Kathedrale. Viele Stunden kniete ich in ihrer Nähe. Ich rang mit Gott. Ich hatte kein Vertrauen in meine Fähigkeiten, ich fürchtete mich vor der Verantwortung. Ein ganzes Jahr kämpfte ich.
In dieser Zeit entdeckte ich einen harten Gegenstand im äußersten Winkel meiner Manteltasche, der sich nicht wie vermutet als Geldstück, sondern zu meiner Überraschung als kleine, abgegriffene Medaille entpuppte. Auf beiden Seiten trägt sie das Bild der „Notre Dame de Chartres": Einmal als die schwarze Madonna von der Krypta, deren Abbildung bei uns in der Kapelle steht, einmal als die Madonna auf der Säule. Vom ersten Tag meines Aufbruchs nach Chartres war sie unbewusst in meinem Besitz gewesen.
Diese „Notre Dame" war nun mein erkanntes Ziel und Ausgangspunkt zu neuem Leben. Der Sturm im Herzen legte sich allmählich und wich tiefem Frieden. Nun verstand ich, wie Gott die Fäden schon von Anfang an gesponnen hat. Die Mutter unseres Herrn, als „Stern im Meer", hat mich von Osten nach Westen gelotst, aus der Zerstörung in den Aufbau.
„Das Lebensschiff in Gottes Hand,
Lass fahren es und gleiten...
Und sinkt es auch bis an den Rand,
Er wird es sicher leiten.
Zu schwach, daß es allein genügt
Im Auf und Ab der Welle,
Hat Gott ein Segel beigefügt
Aus seines Namens Helle.
Steigt dann die dunkle Nacht empor
Und droht mit Sturm und Grauen,
So bangt dir nicht vor ihrem Tor,
Du wirst den Morgen schauen.
Es weht geheime Kraft in Gott
Und zieht uns in die Stille.
Wir treiben alle in den Tod,
Wer liebt lebt fort in Fülle.
Die Medaille trage ich als Kleinod bei mir:
„Königin der Unterwelt
In der Krytpa Lebensschoß,
Thronend unter Gottes Zelt,
Große Mutter, makellos.
Notre-Dame de Sous-Terre,
Notre-Dame de la Belle Verriere,
Notre-Dame du Pilier,
Voulez-vous pour prier
a dieu, a dieu.
Königin Rosetten sprühn
Aus den Fenstern blau, grün, rot,
Leuchtend Gold wie Alpenglühn.
Frau der Liebe, stark wie Tod.
Notre-Dame...
Königin der Herrlichkeit
Auf der Säule Gnadenthron,
Herrschend über Mensch und Zeit,
Siegerin mit deinem Sohn.
Notre-Dame...
0 Maria, Königin,
Braut des Geist's, des Herren Magd.
Ist des Vaters Tochter schön,
Deine Kathedrale sagt.
Notre-Dame..."
Heute bin ich Priester in einer Siedlung am Rande einer- Großstadt. In manchen Krisen genügt ein Griff in die Tasche zu meiner Medaille.
Franz Engesser