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Der Madonnen-Schnitzer von St.-Germain-des-Pres

Von ehemaliges Mitglied 18.10.2020, 07:57


Am Boulevard St.Germain steht die älteste Kirche von Paris: St. Germain des Pres. Mit ihren altersgrauen Mauern und dem mächtigen Turm überragt sie in erhabener Ruhe die lärmerfüll ten Großstadtstraßen. In der Gegend der Kirche befinden sich neben modernen Bazars viele Antiquitätengeschäfte mit kostbaren alten Möbeln und Kunstgegenständen sowie Läden, in denen man Devotionalien kaufen kann. So berühren sich dort Vergangenheit und Gegenwart, geistiges Leben und handfeste Wirklichkeit. In den schmalen stillen Seitenstraßen mit ihren kleinen Läden konnte man durch das Schaufenster den Elfenbein- und Holzschnitzern bei ihrer Arbeit zusehen. Am meisten erregte ein Laden meine Aufmerksamkeit, in dem nur kleine geschnitzte Madonnenstatuen ausgestellt waren, die mir besonders anmutig erschienen. Schließlich betrat ich eines Tages den Laden. Eine alte Frau zeigte mir mit großer Höflichkeit ihre Schätze. Ich wählte ein hölzernes Figürchen, das die „Notre Dame von Paris" darstellte: Die gotische Biegung des schlanken Körpers, das zarte Lächeln des anmutigen Gesichtes, das Kind auf dem linken Arm der Madonna, der Faltenwurf — alles war liebevoll und geschickt nachgebildet. Ich äußerte meine Bewunderung und meinte, dass ich derartige kleine Kunstwerke nur in Italien gesehen hätte. Da schlug die Alte lebhaft die Hände zusammen und rief:

„O mein Herr, Sie waren in Italien? Wir sind Italiener, mein Mann und ich, beide aus Florenz, und er hat diese Madonna selbst geschnitzt, ich werde ihn einmal holen — er wird sich freuen, mit Ihnen zu sprechen."

In seinem Arbeitskittel erschien Meister Giovanni Fortura, vom Alter gebeugt, aber mit feurigen schwarzen Augen und vollen weißen Locken. Über das ganze faltige Gesicht lächelnd, gab er mir die Hand. Wir plauderten über Italien, vor allem über die Heimatstadt der beiden Alten, Florenz. Nach einer Weile fiel mir auf, wie Frau Fortura unruhig zur Tür blickte und Blicke mit ihrem Mann wechselte. Der erhob sich schließlich und sagte mit vollendeter Höflichkeit:

„Mein Herr, es ist Mittag und wir müssen den Laden schließen. Würden sie mir die Ehre antun, noch ein Glas Wein mit mir zu trinken?" Gern nahm ich das Anerbieten an. Fortura holte eine dickbäuchige bestaubte Flasche und zwei Gläser und goss uns goldgelben herrlich duftenden Wein ein.

„Auf Florenz!", sagte ich und stieß mit ihm an.
„Firenze!", wiederholte er, das Wort fast feierlich betonend. Sein Arm machte eine ausbreitende Geste, und vor seinen Augen schien der enge Raum zu versinken: „Ich sehe es vor mir, im Tale mit seinem Dom, den Kirchen und Palästen! Und die Hügel mit Zypressen und leuchtenden Villen! Es gibt nichts Schöneres auf der Welt!"
In Gedanken versunken schwieg Fortura einen Augenblick, dann sah er mich an: „Wissen Sie auch, mein Herr, wie lange ich von Florenz fort bin? Über vierzig Jahre! Ja, damals war ich ein fröhlicher junger Bursche und Angela hier ein schönes Mädchen."

Seine Frau lächelte: „Der Herr wird es sich nicht mehr vorstellen können." „Ich war", fuhr Fortura fort, „ein tüchtiger junger Bildhauer. Mir ging es gut, ich verdiente viel Geld, und Angela liebte mich. Wir wollten bald heiraten. Da war aber ein Bursche, Silvio, Sohn eines Gasthausbesitzers; auch er liebte Angela und prahlte, dass er sie erobern würde. Eines Tages kam ich von der Arbeit und ging über den Ponte Vecchio, da stand dieser Silvio vor einem der Juwelierläden, die auf der Brücke sind, und hatte eine goldene Kette in der Hand. „Für Angela, mit der ich heute tanzen gehe", rief er mir höhnisch zu. Da war es, als stiege mir alles Blut in den Kopf, ich packte Silvio, hob ihn hoch und warf ihn über das Brückengeländer in den Arno! Alles schrie, Fäuste griffen nach mir, aber ich riss mich los, lief die Straße hinunter und in den Boboligarten. Meine Verfolger hatten mich verloren und ich gelangte ins Freie."

Fortura hielt inne, er war im Laufe seiner Erzählung lebhaft gestikulierend aufgesprungen, jetzt setzte er sich wieder.
„Sie trinken ja gar nicht, mein Herr", sagte er und erhob sein Glas. „Ja, es ist merkwürdig, wie ich heute noch aufgeregt werde, wenn ich an jene Zeit denke. Wie gehetzt floh ich durch Italien, manchmal fand ich etwas Arbeit, oft musste ich auch betteln. Und immer die Ungewissheit, ob ich nun wohl zum Mörder geworden sei! Eines Tages schließlich — es war irgendwo in der Lombardei — kniete ich vor einem Muttergottesbilde und schwor, dass ich meine ganze Kunst der Madonna widmen wolle, wenn sie mir hülfe. Schließlich kam ich nach Frankreich, wurde hier in diesem Lande Geselle eines Pisaners, der Gipsfiguren machte und mir die Anfertigung der Madonnenstatuen überließ. Eines Tages saßen wir in einem italienischen Restaurant, ich trank mein Glas Wein, da schlug mir jemand auf die Schulter. „Giovanni Fortura", rief er, „wie kommst du hierher?" Ich erschrak und blickte auf: ein Florentiner, ein Bildhauer, mit dem ich zusammen gearbeitet hatte, stand vor mir. Ich duckte mich, saß still und steif da. Mein Kamerad lachte: „Hab keine Angst, Giovanni, es passiert dir nichts!" Ich sah ihn an, stammelnd brachte ich nur heraus: „Silvio?" Der andere schüttelte sich vor Lachen. „Ach der, dem hat das Bad im Arno nichts geschadet, der ist vergnügt und hat dich wohl überhaupt schon vergessen!" Dann brachte er seine Hand an mein Ohr:
„Angela wartet immer noch auf dich!

Herr, was ich da angestellt habe, ich weiß es nicht mehr. Ich umarmte meine Kameraden, ich lachte und weinte, ich warf Gläser an die Wand — kurz, gebärdete mich wie ein Verrückter! Dann aber ging ich zur Kirche in St. Germain-des-Pres und dankte der Madonna...

Der Madonnenschnitzer goss wieder Wein ein. Dann schloss er seine Erzählung: „Was nun noch kam, ist bald gesagt. Ich ließ meine Angela herüberkommen und wir heirateten. Ich übernahm dann die Werkstatt hier und habe, wie Sie sehen, der Madonna meinen Schwur gehalten und machte nur ihr Bild."
Fortura ergriff die Figur, die ich ausgewählt hatte, und betrachtete sie liebevoll. Dann überreichte er sie mir mit der italienischen Grazie, durch die man sich geehrt fühlt, selbst wenn man etwas kauft. Ich bedankte mich bei dem freundlichen alten Ehepaar und verließ den Laden, froh über das Kunstwerk, das ich erworben, und das, was ich erlebt hatte.



Aus dem Buch "Die schönsten Mariengeschichten"
von Stadtpfarrer Karl Maria Harrer, München

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