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Der Blutrosenkranz

Von ehemaliges Mitglied Freitag 06.11.2020, 11:50


28. September 1950. Ich werde diesen Tag nie vergessen. Die ganze Nacht hindurch feuerten die UN-Truppen ihre Geschosse vom Nam-San (Berg im Süden von Seoul) herunter, und die Kommunisten schossen hinauf. Die ganze Stadt war ein Feuermeer. Sie dröhnte vom fürchterlichen Geratter der Panzer. Ich war wie betäubt, ich glaubte, das Herz müsste mir versagen. In dieser Ausweglosigkeit zog ich den Rosenkranz hervor und begann, unsere Mutter flehentlich und bestürmend anzurufen.

Ich betete, ohne zu wissen, worum und wofür. Endlich ging die schreckliche, lärmerfüllte Nacht zu Ende. Ich ging an de Tong-kuk-Universität vorüber. Dort in dem Tale lagen UN-Soldaten und Nordkoreaner wild durcheinander. Wahrscheinlich waren die feindlichen Heere hier aufeinandergeprallt.

Die Mütter der jungen Soldaten werden Tag und Nacht beten und warten, dass ihre Söhne zurückkommen. Aber diese sind so elendig hier umgekommen, ohne Laut, ohne Worte. Sie liegen hier, welch ein Bild des Grauens! Nun richtete ich meinen Blick direkt vor mich. Ich erstarrte vor Entsetzen. Direkt mir vor den Füßen lag ein toter Nordkoreaner, ein Bein war wie abgesägt, das andere streckte er in die Luft, die Zähne hielt er zusammengebissen, die beiden Augen waren weit offen, die Zunge streckte er halb heraus, das erbrochene Blut klebte an seinen Lippen. Ein Ekel erregendes, herzerbarmendes Bild. Daneben ein Schwarzer, groß an Wuchs. Als ich genauer hinsah, stellte ich fest, dass er von der rechten Hand nur noch den Daumen und den kleinen Finger hatte, die drei mittleren Finger hatte er verloren. Aus der großen Wunde floss noch das Blut. Als ich näher hinzutrat, entdeckte ich mitten in diesem Grausen, dass er mit den beiden verbliebenen Fingern einen Rosenkranz festhielt. Ich kniete neben ihm nieder, legte ihn etwas gerade, wobei das noch vorhandene Blut aus der Brust quoll. Dann rief ich mit lauter Stimme auf englisch in sein Ohr: „Ich bin Priester! Ich bin Priester!" Er antwortete jedoch nicht.
Er atmete nur tief auf und ließ seine bereits eine einzige Blutkruste gewordenen Finger zur nächsten Perle des Rosenkranzes gleiten. Seine von Blut verschmierte Brust war noch warm. Ich schrie ihm nochmals ins Ohr, dass ich Priester sei. Mit seinem angeschwollenen rechten Auge starrte er mich an. Ich gab ihm sofort die Lossprechung, zog aus der Tasche das Krankenöl hervor, das ich immer bei mir trug, und salbte ihn auf der Stirne. Meine Finger waren nun auch ganz in Blut gebadet. Er lächelte und zeigte eine zufriedene Miene. Statt Worten zeigte er mir mit den beiden blutigen Fingern den ebenso blutigen Rosenkranz. „Ave Maria ...!", stammelte er mehrmals kraftlos. Die Hand fiel ihm auf die Brust. Er war tot.

Als ich dem unter so schrecklichen Umständen und doch so schön und heiligmäßig gestorbenen Schwarzen die Augen zudrückte, konnte ich die Tränen nicht zurückhalten: „Mutter! Hast du das Rufen dieses verblutenden Soldaten gehört? Mutter! Heilige Mutter Maria! Hast du das Schreien seiner Seele und seines Leibes gehört? Wenn du es gehört hast, musst du die Seele dieses Jünglings zu dir nehmen. Er ist so einsam in einem fernen, fremden Lande, an einem namenlosen Tag namenlos und grausam dahingesunken. Wische alle Tränen und alles Blut fort aus seinem Auge! Treibe fort von ihm jede Trauer und jeden Schmerz!" Ich sehe nochmals genau hin: Drei Finger sind weg, die zwei noch verbliebenen haben gerade das vierte Gesätz des Rosenkranzes zu Ende gebetet. Ich fasse den blutigen Rosenkranz und bete das fünfte Gesätz des glorreichen Rosenkranzes. Mit meinen Lippen bete ich die Ave Maria und durch die blutigen Finger des toten Soldaten lasse ich dabei den Rosenkranz gleiten, Perle für Perle. Da er für ewig von hier Abschied genommen hatte, betete ich seinen Rosenkranz stellvertretend zu Ende.

Glücklich dieser Soldat, der im Beten des Rosenkranzes, die Mutter anrufend, von hier Abschied genommen hat! Obwohl die Finger abgeschossen, bereits alles Blut verloren war, obwohl einsam und hilflos im Sterben liegend, hatte er beharrlich zur Mutter gebetet. Wir aber, die wir uns gesunder Glieder erfreuen und uns in keiner Todesgefahr befinden, rufen unsere Mutter nicht an. Wir gehen nicht zu ihr, zu unserer Mutter Maria. Im Gedenken an den schönen und heiligmäßigen Tod des schwarzen Soldaten lasst uns andächtig und inständig den Rosenkranz beten! Wenn immer ich das Rosenkranzgebet beginne, kommt mir jene Szene wieder in den Sinn, wie der ganz von Blut verschmutzte Rosenkranz des schwarzen Soldaten durch meine Finger glitt. „Mutter, hast du den verhallenden Ruf des Soldaten gehört? Höre unser aller Rufen! Neige gnädig dein Ohr und verlass uns nicht!"


Aus dem Buch "Die schönsten Mariengeschichten"
von Stadtpfarrer Karl Maria Harrer, München

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