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Das Schwarze in mir

Von Fiddigeigei Dienstag 01.11.2022, 10:38

Der Schwarze Vogel erhob sich vom Kopf des Engels und strich mit seinen Schwingen über mich hinweg, dabei meine Augen berührend. Sofort versank ich in eine unbeschreibliche Dunkelheit, die mich festhielt aber mir trotzdem Raum ließ und mein Geist, oder das Ich in mir, sehen ließ was aus einer anderen Welt zu kommen schien.
Ich saß am Rand meines eigenen Grabes. Auf dem Graniten Grabstein las ich eingemeißelt meinen Namen, gestorben am 1sten November und ein Kreuz dahinter. Meine Beine baumelten hinab in die kalte Gruft, aus der es kein Entrinnen mehr zu geben scheint.
Zu meinem großen Erschrecken sah ich wie sich Grabhügel um Grabhügel wölbte, wie sich Knochen um Knochen zusammenfügten und wie sich um die Knochen schleimiges Fleisch bildete. Das Fleisch war aber nicht wie bei uns Lebenden fest sondern es war fahlleuchtent und war von gallertartiger ekelerregender Struktur. Die Haare waren schneeweiß und flatterte um die hautbespannten Totenköpfe. Die Augen glühten aus den tiefliegenden Augenhöhlen hervor. Ihre Bekleidung bestand aus dem, was man ihnen im Sarg angezogen hatten und schlotterte um sie herum. Als alle Toten ihre Gräber verlassen hatten, darunter viele meiner verstorbenen Freunde, versammelten sie sich in einer Runde. Dies alles geschah in einer Furcht einflößender Stille, kein Wort wurde gesprochen und mich dem ,scheinbar Toten schien sich niemand zu kümmern. Wie auf einen Befehl schob sich vor den hell leuchtenden Vollmond eine Wolke. Dann begann sich wie in einem Wirbel alles zu drehen und wir wurden in ein dunkles Nichts gezogen. Es war für mich schrecklich mit dieser Masse schleimigen Wesen in einer solchen Nähe sein zu müssen. Es roch nach verwestem Fleisch aus ihren toten Münder strömte die Pest und Verdammnis. Wohin ich mich auch auch wendete ich war gezwungen dieses widerliche schleimige eiskalte Fleisch zu berühren und sie berührten mich, meinen warmen Körper, als ob sie mir meine Körperwärme entziehen wollten, mir dem einzigen Lebenden.
Der Wirbel presste uns zusammen und dann wieder auseinander, die Gesichter verzerrten sich zu den widerlichsten Fratzen die man sich vorstellen kann. Und ich fühlte mich wehrlos zwischen all den Scheußlichkeiten verloren.

Als ich irgend wie zu mir kam, lag ich vor dem Grab mit dem Engel, der wie immer freundlich und mitleidig auf mich herab sah. Ich muss beim Laufen gestolpert sein und das Bewusstsein verloren haben. Der Vollmond leuchtete wieder hell und von der nahen Kirchturmuhr schlug es Einuhr. Die roten Grablichter legten einen warmen ruhigen Schein auf die Gräber.
Es war Allerheiligen geworden.

Totentanz
Der Türmer, der schaut zumitten der Nacht
Hinab auf die Gräber in Lage;
Der Mond, der hat alles ins Helle gebracht;
Der Kirchhof, er liegt wie am Tage.
Da regt sich ein Grab und ein anderes dann:
Sie kommen hervor, ein Weib da, ein Mann,
In weissen und schleppenden Hemden.

Das reckt nun, es will sich ergetzen sogleich,
Die Knöchel zur Runde, zum Kranze,
So arm und so jung und so alt und so reich;
Doch hindern die Schleppen am Tanze.
Und weil hier die Scham nun nicht weiter gebeut,
Sie schütteln sich alle, da liegen zerstreut
Die Hemdelein über den Hügeln.

Nun hebt sich der Schenkel, nun wackelt das Bein,
Gebärden da gibt es vertrackte;
Dann klippert's und klappert's mitunter hinein,
Als schlüg man die Hölzlein zum Takte.
Das kommt nun dem Türmer so lächerlich vor;
Da raunt ihm der Schalk, der Versucher, ins Ohr:
"Geh! hole dir einen der Laken."

Getan wie gedacht! und er flüchtet sich schnell
Nun hinter geheiligte Türen.
Der Mond und noch immer er scheinet so hell
Zum Tanz, den sie schauderlich führen.
Doch endlich verlieret sich dieser und der,
Schleicht eins nach dem andern gekleidet einher,
Und husch! ist es unter dem Rasen.

Nur einer, der trippelt und stolpert zuletzt
Und tappet und grapst an den Grüften;
Doch hat kein Geselle so schwer ihn verletzt;
Er wittert das Tuch in den Lüften.
Er rüttelt die Turmtür, sie schlägt ihn zurück,
Geziert und gesegnet, dem Türmer zum Glück,
Sie blinkt von metallenen Kreuzen.

Das Hemd muss er haben, da rastet er nicht,
Da gilt auch kein langes Besinnen,
Den gotischen Zierat ergreift nun der Wicht
Und klettert von Zinne zu Zinnen.
Nun ist's um den armen, den Türmer getan!
Es ruckt sich von Schnörkel zu Schnörkel hinan,
Langbeinigen Spinnen vergleichbar.

Der Türmer erbleichet, der Türmer erbebt,
Gern gäb er ihn wieder, den Laken.
Da häkelt - jetzt hat er am längsten gelebt -
Den Zipfel ein eiserner Zacken.
Schon trübet der Mond sich verschwindenden Scheins,
Die Glocke, sie donnert ein mächtiges Eins,
Und unten zerschellt das Gerippe.
(Johann Wolfgang von Goethe, 1749-1832, deutscher Dichter und Naturforscher)

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