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Geschenkt ist geschenkt

Es waren nicht gerade rosige Zeiten, in denen meine vier Brüder Wolfgang, Franz, Jürgen, Michel und ich im Berlin der sechziger Jahre aufwuchsen. Auf engstem Raum in eine Altberliner Mietwohnung gepfercht, waren Wechselbäder von Liebe und Hass unter uns aufgeweckten Jungs an der Tagesordnung. Wir waren eine kleine glückliche Großfamilie – wenn auch geschrumpft um einen untreuen Vater. Er beraubte uns Buben eines männlichen Vorbildes als wir noch sehr klein waren.

Von der Pflicht enthoben, eine „Vaterfigur“ kopieren zu müssen, festigte sich schon früh eine meiner charakteristischen Eigenschaften, anführen und leiten zu wollen. Mit einer großen Portion Selbstvertrauen ausgestattet, übernahm ich als Drittgeborener in diesem Brüderverbund die Verantwortung. Natürlich versuchten meine Brüder hin und wieder diese Machtposition zu kippen. In solchen Fällen kam mir mein Kampfgeist zugute, und ich verteidigte – wenn ein warnender Blick nicht ausreichte – mit Boxhieben meine Stellung in der Familie. Nebenbei gesagt begrüßte, ja förderte Mutter sogar die von mir übernommene Rolle des männlichen Beistands, da sie speziell mir ihre Sorgen und Nöte anvertraute. Einerseits mit ihren eigenen finanziellen und emotionalen Problemen beschäftigt, versuchte sie andererseits ihrer Mutterrolle gerecht zu werden; stets ängstlich bemüht, ihre Gunst gleichmäßig an uns zu verteilen. Dennoch konnte sie nicht umhin, meinem zwei Jahre jüngeren Bruder Franz den Vorzug zu geben. Als ihr spezieller Liebling konnte er sich stets der mütterlichen Fürsorge und Nachsicht gewiss sein. Egal, welche Possen er auch riss, es wurde meistens mit einem Lächeln quittiert. Aber auch ich schloss ihn in mein Bruderherz – kaum dass er den Windeln entwachsen war. Er dankte es mir, indem er mich wie ein Schatten verfolgte. Seine ständige Anwesenheit nervte mich ungemein, aber war er einmal nicht in meiner Nähe, vermisste ich ihn.

So war es auch an jenem Tag im Mai des Jahres 1968. Damals - als Franz unsere Familie verließ, war ich knapp elf Jahre alt.

Eigentlich war es ein Tag wie jeder andere: Wir tobten durch die Wohnung, lieferten uns turbulente Kissenschlachten, kreischten und jauchzten übermütig, während unser altes Transistorradio lautstark aktuelle Schlager trällerte. Diesem Ansturm auf ihr Nervenkostüm nicht gewachsen, griff sich Mutter hysterisch schimpfend plötzlich den Erstbesten, der auf Socken durch die Küche schlitterte und versohlte ihm den Hosenboden. Franz, das Opfer, erstarrte zunächst zur Salzsäule, bis ihn das erfahrene Unrecht alle Hemmungen vergessen ließ. Als erfahrene „Heulsuse“ spulte er sein gesamtes Repertoire ab, das mit mitleiderregendem Wimmern begann und sich in krampfartiges Schluchzen steigerte. Solidarisch begleiteten wir unseren wütend greinenden Bruder ins Kinderzimmer und wurden Zeugen einer kuriosen Tat: Franz packte seinen alten braunen Segeltuchrucksack! Wahllos stopfte er Pullover, Unterhosen und Socken in den Sack. Aber wie verblüfft waren wir erst, als er uns seine Spielsachen schenkte! Einer gewissen Dramatik nicht entbehrend, bedachte er jeden mit einem Schatz aus seiner Spielzeugkiste, wobei er tränenerstickt krächzte: „Wo ich hingehe, brauche ich die Sachen nicht mehr!“

Die erschütterndste Szene aber spielte sich im Hausflur ab. Um Fassung bemüht, streichelte Mutter ihren fortdrängenden Sohn über die Wange, drückte ihm einen Kuss auf das zerzauste Haar und fragte besorgt: „Junge, willst du nicht doch lieber bei uns bleiben?“ Trotzig schüttelte Franz den Kopf und warf einen letzten Abschied nehmenden Blick auf Mutter und seine Brüder. Die Türe fiel hinter ihm ins Schloss. Von plötzlicher Einsamkeit übermannt wandte ich mich der Küche zu, in der Mutter am Fenster lehnte und ihrem verlorenen Sohn nachtrauerte. Sie zog mich zu sich heran, um mit mir auf das rege Treiben auf der Straße zu schauen. Wolfgang, Jürgen und Michel drängten sich an uns, so dass wir gemeinsam eine gute Sicht auf unseren Kiez hatten. Aber von Franz war weit und breit nichts zu sehen. Meinen Brüdern wurde es langsam langweilig und unter Knuffen und Stubsen verzogen sie sich in unser gemeinsames Kinderzimmer.

Autohupen erregten Mutter’s und meine Aufmerksamkeit. Soeben überquerte Franz in Gedanken versunken die Straße, trottete dann verzagt den Bürgersteig entlang, um sich hinter dem nächsten Häuserblock unserem Blickfeld zu entziehen. Wenige Minuten später tauchte er wieder auf und steuerte forschen Schrittes die Kreuzung an. Hier verweilte er kurz, um dann den eben zurück gelegten Weg zurück zu trödeln. Ewigkeiten verbrachten wir damit, Franz aus der Ferne bei seinem inneren Kampf zuzuschauen. Als er abermals vorüber schlich, riss ich spontan die Fensterflügel auf und brüllte ihm listig zu: „Franz, die Kinder streiten sich um deinen Stoffhund Lupo! Wer soll denn den haben?“ Nachdenkliche Falten umwölkten Franz Stirn, bis ihm bewusst wurde, dass ich ihm einen Rettungsanker zugeworfen hatte. Er ergriff ihn. Von einem Moment auf den anderen erhellte sich sein finster dreinblickendes Gesicht, seine Gestalt straffte sich und die rot verweinten Augen funkelten vor Erleichterung. Dieser strahlende Blick traf mich, als er hoffnungsfroh zu mir empor blickte. In der nächsten Minute schulterte er vergnügt seinen Rucksack, rannte los und schrie im Laufen: „Warte, ich komme!“

Mein kleiner Bruder stolperte durch’s Treppenhaus und kam ganz außer Atem an unserer Eingangstüre an. Mutter empfing Franz mit einem wissenden Lächeln in den Augen wie einen jahrelang vermissten Kriegsgefangenen, herzte und küsste ihn. Doch Franz hatte keine Zeit für so viel gluckenhafte Zuneigung, drängte an mir vorbei, hastete ins Kinderzimmer und überraschte seine ins Spiel vertiefte Brüder mit dem Befehl: „Spielsachen her – und meinen Lupo kriegt sowieso keiner!“ Widerwillig wurden die Geschenke dank Mutters Autorität zurück gegeben. Damit war die Ordnung wieder hergestellt und Franz folgte mir wieder schattengleich. Aber ich dämpfte die Wiedersehensfreude, indem ich Franz zuflüsterte: „Geschenkt ist geschenkt, wiederholen ist gestohlen.“

Ende

geschrieben von Zwienie

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