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Der Brief

Von ehemaliges Mitglied Donnerstag 07.05.2020, 00:30

Der Brief



Achtlos warf ich den Brief auf das Telefonschränkchen im Flur neben der Eingangstüre. Ich würde ihn später lesen. Nun verlangt es mich nach einer Tasse Kaffee, um erst einmal zur Besinnung zu kommen.

Die schonungslose Eröffnung des Frauenarztes, aus dessen Sprechstunde ich eben nachhause komme, hat mich im Innersten getroffen. Ich muss nachdenken. Ein einziger Satz, der all meine Hoffnungen zunichte gemacht hat. „Sie haben Krebs, Frau Müller.“ Es täte ihm leid, mir diese schlimme Diagnose mitteilen zu müssen, sagte er und das Wort „Totaloperation“ fiel. Er hatte versucht, mir irgend etwas Tröstliches mit auf den Weg zu geben. Doch dieser eine Satz füllte mich derart aus, dass ich keine weiteren mehr aufnehmen konnte. Danach war ich regelrecht aus seiner Praxis geflohen. All meine Hoffnungen, noch einmal ein Kind austragen zu können, sind mit diesem Satz gestorben. Zu erfahren, ob ich selbst überleben würde, ist mir in diesem Moment nicht mehr wichtig gewesen.
Wie würde es nun weitergehen mit Peter und mir? Mein Mann registriert jede Familie mit Kind, der wir begegnen auf unseren Spaziergängen. Jedem dieser Blicke folgt meist ein resignierter Seitenblick auf mich. Zunehmend ist es Enttäuschung, die ich in seinen Augen lesen kann.

Peter und ich sind beide Mitte dreißig und seit vier Jahren verheiratet. Peters erste Ehe ging bereits nach wenigen Jahren in die Brüche, da seine damalige Frau seinen dringenden Kinderwunsch nicht teilen mochte. So hatten sie sich also getrennt und Peter lebte einige Jahre als Single, bis wir uns kennenlernten. Schnell waren wir uns näher gekommen, und bereits nach wenigen Monaten unserer Beziehung beschlossen wir zu heiraten. Peters Wunsch nach einem Kind ist mir von Anfang an bekannt gewesen und ich habe keinen Zweifel daran gehabt, ihm diesen Wunsch bald erfüllen zu können. Doch bis heute hat es nicht geklappt mit einem gemeinsamen Kind. In letzter Zeit hatte Peter sogar versucht, über eine mögliche Adoption mit mir zu sprechen. Doch dazu war ich nicht bereit gewesen.

Und nun diese niederschmetternde Nachricht. Wie soll ich sie Peter nur beibringen?
Von Tobias weiß Peter nichts. Dieses Geheimnis habe ich mit meinem alten Leben zurückgelassen. Tobias ist mein Sohn. Wo er heute lebt, weiß ich nicht. Seit jenem Tag vor sechs Jahren habe ich nie mehr etwas über ihn erfahren. Als sie mir damals vorwarfen, meinen Sohn misshandelt zu haben und ihn mir wegnahmen, bin ich weggezogen. Hier in dieser Kleinstadt habe ich noch einmal von vorne angefangen. Mein vorheriges Leben und die Existenz von Tobias habe ich verschwiegen; Tobias, der morgen acht Jahre alt wird. Ich schäme mich meiner Vergangenheit, und es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an mein Kind denke und an all die Lügen, die zwischen Peter und mir stehen und von denen er nicht einmal ahnt.
Die Diagnose des Arztes empfinde ich beinahe als gerechte Strafe. Als Strafe für mich, für meine Verfehlungen und die große Lüge, auf die meine Ehe mit Peter aufgebaut ist.
Als ich auf dem Weg zur Küche abermals am Flurschränkchen vorbeikomme, fällt mir der Brief wieder ins Auge. Der Absender ist das Jugendamt in M. Ich öffne ihn, lese und kann den Inhalt kaum fassen. Es wird mir mitgeteilt, dass eine Familie meinen Sohn Tobias adoptieren möchte, man benötige hierfür jedoch das schriftliche Einverständnis der leiblichen Mutter.

Ich habe Angst vor dem Gespräch mit Peter heute abend.

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