Es nervte ihn. Seit Wochen hatte kein einziger Club mehr geöffnet. Wegen Covid 19 waren alle Tanzveranstaltungen untersagt und dies nun schon seit Monaten. Robert war sauer, einfach nur sauer, denn wegen diesem Virus, das angeblich hoch ansteckend sein soll, konnte er nun seit langer Zeit nicht mehr am Wochenende in seinen Lieblingsclub Robbe gehen. Da gab es ohnehin so einige Zweifel. Er kannte keinen einzigen Menschen, der an diesem Coronavirus erkrankt war. Und außerdem sollte es ja eh nur bei älteren Menschen zu Komplikationen kommen. „Wenn dann einige daran sterben, wenn's überhaupt stimmt, dann waren die schon so um die 80 und würden sowieso bald den Löffel abgeben - ist doch wahr“, dachte Robert.
Seit gestern hatte sich Roberts Stimmung wieder ein wenig aufgehellt. Von Thomas hatte er nämlich vor einigen Tagen den Tipp erhalten, dass es im Kurwald Park am Wochenende eine wilde Party gäbe. Jeder könne da hingehen. Getränke müsse man selbst mitbringen und eben gute Stimmung.
Gestern hatte er zum ersten Mal an solch heimlichen Treffen teilgenommen. Geschätzt 180 bis 200 Leute waren gekommen. Da es jetzt im Spätsommer schon früher dunkel wird, war die Party schon vor Mitternacht so was von super, dass Robert nur in Bruchstücken davon berichten konnte. „Tolle Görlis waren da. Du glaubst nicht, was da so abgegangen ist“, berichtete Robert seinem Freund am Samstagmorgen. „Als gegen 3 Uhr die Bullen auftauchten, war's zwar vorbei, doch so eine schöne Nacht habe ich lange nicht erlebt“ ergänzte er. „Erwischt worden bin ich nicht, denn ich hatte rechtzeitig die Bullen kommen sehen und mich gleich verzogen“ schloss er seinen Kurzbericht.
Robert hatte vor seinem heimlichen Abgang noch eines mitgekriegt: Morgen Nacht gibt’s die Party am Schönwalder Graben. Tja, und jetzt war er da. Mit seinem schwarzen Golf war er hierher gefahren, denn zum Schönwalder Graben ist es doch ziemlich weit von seiner Wohnung aus. Den Wagen hatte er gebraucht gekauft, da er als Elektriker-Azubi noch nicht so gut bei Kasse ist. In zwei Monaten soll diese Zeit sowieso vorbei sein, denn nach der Lehre gibt es so richtig Knete und er kann bei seiner Firma bleiben, das hatte ihm der Chef schon versprochen.
Die Party war wieder krass, anders kann man es nicht beschreiben. Es waren wiederum so um die 200 Leute gekommen und es wurde getanzt auf Teufel komm raus. Polizei ist keine erschienen und so ging es rund bis in die frühen Morgenstunden. Als Robert merkte, dass er zu viel getrunken hatte, ließ er den Wagen stehen und fuhr mit der ersten Tram nach Hause. „Den Lappen lass ich mir doch nicht abnehmen, nee ohne mich,“ dachte er.
Nachdem er ausgeschlafen hatte, fuhr er jetzt mit der Tram zum Schönwalder Graben, um seinen Blacky, wie er seinen Golf nannte, abzuholen. Die Bahn war für den frühen Sonntagnachmittag recht voll. Allerdings, so fiel es Robert ein, fährt sie ja am Robert Koch Krankenhaus vorbei und da werden viele Krankenhausbesucher mit in der Tram sein. Neben einem älteren Herrn hatte er einen Platz gefunden. Dieser hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, dass er keine Maske trage wegen Corona und so. Verdammt, die hatte er glatt vergessen und so hielt sich Robert sein Taschentuch vor Nase und Mund und drehte sich ein wenig nach links.
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Ralf Stober war mit seinen 73 Jahren noch sehr fit. Er war stolz darauf, bis vor einem Jahr noch an Volksläufen teilgenommen zu haben und dies mit recht passablen Zeiten. Wegen seiner Probleme mit dem Darm hatte er diesen Sport aber aufgeben müssen. Schade, aber es gab schlimmeres. Seine Frau lag nun schon seit knapp einer Woche im Krankenhaus. Mit unbekannter Diagnose war sie vorige Woche eingewiesen worden. Heute wollte er sie wieder besuchen.
Für Annemarie hatte Ralf Stober Chrysanthemen besorgt, weil sie diese so sehr liebte. Vor dem Krankenbesuch war er noch mit seinem Freund Dieter beim Italiener zum Essen verabredet. Dieter kannte er noch von seiner aktiven Zeit als Läufer. Dieser war seit zwei Jahren Witwer und ging häufiger zum Essen. Ralf Stober war froh, nicht kochen zu müssen, denn damit hatte er es nicht so. Gut, er musste seiner Frau öfter beim Zubereiten des Essens helfen, „damit Du auch mal alleine klar kommst“, hatte Annemarie eher scherzhaft gemeint, doch so richtig, also intensiv hat er sich den Ablauf bei der Zubereitung der Mahlzeiten auch nicht gemerkt, da seine Frau das nun mal so viel besser und leckerer konnte. „Außerdem ist sie einige Jahre jünger als ich“, hatte Ralf Stober gedacht, als er mal wieder die Schnitzel vor dem Panieren durch die gequirlten rohen Eiern ziehen musste. „Wenn jemand von uns beiden in - sagen wir mal 10 bis 15 Jahren - gehen muss, dann ja wohl eher ich“, hatte er seine nicht ganz ernsthaften Überlegungen abgeschlossen.
Das Essen mit Dieter war sehr anregend, denn es gab eine ganze Menge von Erinnerungen aufzufrischen. Gegessen hatten sie unter der Markise des Lokals, denn draußen zu essen, war in Coronazeiten doch noch die sicherere Variante. Ihren Namen und Telefonnummer hatten sie in den Bogen eingetragen, den ihnen der Ober vorschriftsmäßig vorgelegt hatte.
Es war gegen 14 Uhr als Ralf Stober in der Tram saß, auf dem Weg ins Krankenhaus. Beide Waggons der Tram waren relativ voll. Einen Platz am Fenster hatte Ralf dennoch bekommen. Nicht lange saß er alleine. Ein junger Mann war eben zugestiegen und hatte sich neben ihn gesetzt. 18, 19 Jahre alt mochte er sein. Obwohl schon seit Wochen in den „Öffentlichen“ vorgeschrieben, trug er keine Maske. „Entschuldigen sie“ wandte sich Ralf Stober an den jungen Mann, „sie haben vergessen, ihre Maske aufzusetzen.“ Der junge Mann sah ihn zunächst etwas ungehalten an, murmelte etwas vor sich hin, doch zog er ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und hielt es sich vor Mund und Nase. Immerhin drehte er sich dann auch noch etwas zur Seite, so dass der leise Ärger, der in Ralf Stober aufgestiegen war, sich schnell verflüchtigte.
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Am 15. September wurde Annemarie Stober von einer Krankenhauspsychologin darüber informiert, dass ihr Mann am Vortag im selben Krankenhaus, in dem sie jetzt schon mehrere Wochen lag, an Covid 19 verstorben sei. Alle Bemühungen der Ärzte seien trotz künstlicher Beatmung ergebnislos geblieben. Seitens des Gesundheitsamtes hatte man alle Kontakte ihres Mannes zurückverfolgt. Auch Dieter, der Freund von Ralf war befragt worden. Dank seiner Auskünfte waren sogar Erkundigungen über mögliche Kontakte in der Linie 11 der Tram am 9. September zwischen 13:30 und 15 Uhr eingeholt worden. Ergebnislos.
Von all dem erfuhr Robert nichts. Was er außerdem nicht wusste, er hatte eine Coronainfektion völlig symptomfrei durchlebt. Für ihn ein großes Glück und was für ihn noch sehr viel besser war, er hat nie erfahren, dass es mit den erhofften noch 10 bis 15 Jahren des Herrn Ralf Stober seinetwegen nichts geworden ist.
Unter Umständen hätte Robert sonst vielleicht unter Schuldgefühlen gelitten. Das blieb ihm alles erspart. - Heute ist wieder der Kurwald Park als heimlicher Treffpunkt vereinbart. „Big Party ist angesagt,“ dachte Robert. „Eye Mann, die Robbe ist immer noch zu. Und außerdem, man lebt doch nur einmal - ist doch wahr!“, ging es ihm durch den Kopf, als er seinen Blacky in der Nähe des Parks abstellte.