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Das Brieflein

Es war einmal ein 24-jähriges Mädchen. An diesem Vortag eines für ihn wichtigen Ereignisses schlich es sehr bedrückt einher. In solchem Fall hilft der liebe Gott! Gerade prüfte er ein letztes Mal vor dem Schlafengehen sorgsam das Treiben auf der Erde, als ihm dieses traurige Menschenkind auffiel, das sich eigentlich an einem solchen Tag besser optimistischen Gedanken hätte hingeben sollen.

„So nicht!“
Dringlich beförderte er dessen Schutzengel zum Schutzengelbriefträger.
„Du fliegst sofort zur Klein-Kleckersdorfer-Str.44 in Pusemuckel. Dort wartet ein weibliches Wesen mit einem Eilauftrag. Los, ab mit Dir!“
„Okay, Chef!“, erwiderte jener.
Irre stolz, setzte er eine wichtige Miene auf und bewies seinem Herrn und Meister, was eine solche Beförderung nach sich ziehen kann. Mit rasanten 300 km/h düste er dahin. Dabei war ihm die himmlische Verkehrsordnung total egal. Zum Glück war nicht noch ein zweiter Bote unterwegs. So kam es zu keiner der gefürchteten Himmelskarambolagen. Alle paar Minuten schickte der pflichtbewusste Schutzengel einen prüfenden Blick zur Sonne, die ihn aus Jux gemein blendete und dies gar so kurz vor ihrem eigenen Untergang. Anscheinend war ihr Arbeitstag nicht übermäßig anstrengend gewesen, weil sie zu diesem für ihn denkbar ungünstigen Zeitpunkt noch die nötigen Kraftreserven für solchen Unfug mobilisieren konnte.
„Verflixt!“, murmelte der Engel.
Den Rest verkniff er sich. Engel kennen keine unflätigen Ausdrücke, es sei denn, sie verlieren während der Flügelerneuerungsphase - Mauser - einige wesentliche Anteile ihrer Erkennungsmerkmale. Dann holen sie an Flüchen eifrig nach, was sie sonst gefälligst runter zu schlucken haben.
Endlich landete er in Pusemuckel. Überirdisch klug spürte er dort in der Klein-Kleckersdorfer-Str.44 sofort das bereits wartende weibliche Wesen auf. Vor Kälte schlotternd wartete es in der eisigen Nacht, streckte ihm mit rot gefrorenen Fingern einen winzigen Umschlag hin und stotterte: „Bitte mach schnell. Sonst bekommt sie den nicht mehr rechtzeitig!“
Flehend starrte es ihn an. Engel sind auch Männer - es heißt ´der Engel` - und so rührte ihn der seelenvollen Blick zutiefst. Er nahm den Brief, bekam im Abflug noch so gerade das hingehauchte ´Danke!` mit und erhob sich mit kräftigem Flügelrauschen in die Lüfte. Neugierig schielte er auf den Papierfetzen. Wichtige Nachricht? Hm ...
„Na ja, in der Kürze liegt die Würze!“ Fix konzentrierte er sich erneut auf seinen Auftrag. „Bitte, mach schnell!“, hatte das weibliche Geschöpf dort in Pusemuckel gebettelt. Wie ein Düsenjet dahin rasend, wirbelte der Engel ein paar Sterne durcheinander. Die reagierten prompt sauer. Sie waren an Ordnung gewöhnt und bestanden auf ihre traditionelle Umlaufbahn.
„Eine Unverschämtheit, den hier üblichen Knigge dermaßen zu missachten. Strafe muss sein!“
Für die sonst so disziplinierten Füllpartikel des Universums also sehr unüblich, beherrschte eines aus Wut seine Glut nicht länger, zielte mit kochenden Strahlen auf des Engels Federkleid und erwischte treffsicher die linke Flügelspitze. Der Stern, darüber sehr zufrieden und darum bereits wieder besänftigt, grübelte:
´Und dessen unmögliches Benehmen hat mein Chef gestattet? Ob dessen Arbeitspensum zu umfangreich war??`
„Aua!“, brüllte der Briefträger und beäugte besorgt über die Schulter zurück die angesengte Feder.
Zum Glück hatte es nicht die Prestigefeder, sondern nur die zweite daneben erwischt. Trotz des gelungenen Denkzettels des Sternes kümmerte sich der Engel um die sich anhaltend entrüstende Himmelslampenschar nicht weiter. Denn er hatte schließlich etwas zu erledigen. Leider ließ die Monduhr, wie er dann feststellen musste, extrem unhöflich ihre Zeiger munter weiterlaufen, anstatt sie aus universeller Solidarität wenigstens für zehn Minuten zu stoppen.
„Hoffentlich komme ich nicht bloß zu spät!“
Bei unpünktlicher Erledigung des Auftrages würde er die Beförderung garantiert sofort wieder los. Er kannte ja den Meister dort oben lange genug. Der war ein strenger Arbeitgeber!!
Derweil saß das 24-jährige Mädchen in seiner kleinen Wohnung bereits seit drei Stunden am Schreibtisch und blickte mittlerweile ausgesprochen genervt auf die vor ihm liegenden Hefter. Deren Inhalt war augenscheinlich so fesselnd, dass die Studentin nahe davor war, den Kopf auf die ordentlich ausgerichteten Blätter fallen zu lassen und einzuschlafen. Aber sie musste durchhalten. Morgen war es soweit! Sie hatte das Gefühl, nichts von dem ganzen Pensum zu beherrschen.
„Das schaffe ich nie!!“
Ihre grauen Zellen hatten bereits stundenlang Schwerstarbeit geleistet. Doch inzwischen ging ihr die Büffelei gewaltig auf den Keks. Na ja, noch ein letztes Mal, dann wäre endgültig Schluss!! Derweil versuchte ihr Gehirn mit sich steigernder Verärgerung seine Auftraggeberin zu durchschauen. ´Sie will doch nicht etwa die Denkarbeit noch fortsetzen??`
Am liebsten hätte es vor Unmut seine Windungen noch mehr gekräuselt als sie es ohnehin schon waren. Aber dies war ihm verwehrt und so wandte es sich um Hilfe an den Himmel:
„Bitte, sorg` dafür, dass sie endlich aufhört. Wir rauchen schon!“
Die Antwort kam prompt. Dessen Meinung nach hatten sie für heute ihre Pflicht mehr als gewissenhaft erfüllt:
„Geduld, sie ist gleich fertig. Sie will nur noch überprüfen, ob ihr wirklich alles gespeichert habt!“
Genau vor einer knappen Minute hatte sich die junge Frau hierzu aufgerafft, stützte den Kopf in die Hand und riss sich am Riemen:
„Impressionismus ...“
Klasse! Sie gab sich eine Eins plus. Und munterer fuhr sie fort: „Expressionismus ...“ Wie viele ´Nismusse` würden denn noch folgen? Sie seufzte laut. „Immerhin: Es sitzt!“ Ihr Kopf brummte. Aber tapfer weiter im Text und sicherheitshalber noch einmal von vorne: „Impressionismus!“

Sehr gut! Dann: „Expessimismus ... “
Gerade wollte sie sich schon freuen, da stockte sie: ´Irgendwas stimmt nicht, nur was??`
Beinahe schon in Trance hub sie von neuem an:
„Expemismus …, ääh!“ Der Versuch einer Verbesserung folgte: „Epemimus... “
Sie konnte sich kaum mehr konzentrieren. Dagegen war ihr so allmählich alles egal und sie dichtete lustig drauflos:
„Impesmus … Epimus … Impressinus ... ??“
Doch dann plötzlich strahlte sie übers ganze Gesicht. Wieso war sie denn da nicht schon eher darauf gekommen?! Einen dermaßen tollen Geistesblitz hatte bestimmt nicht jede Studentin so kurz vorm Umfallen: Es folgte das Wort des Tages, eine in ihrer Gewichtigkeit einmalige Einsicht. Ganz langsam ließ sie sich den Begriff auf der Zunge zergehen: „Vul..ka..nis..mus!“
Juchuuh! Sie vergaß die Müdigkeit, erhob sich, tanzte euphorisch eine Runde Tango Argentino - immer um den jetzt heißgeliebten Schreibtisch herum - und berauschte sich am eigenen Tanz. Aber dieser Zustand war ihr nicht allzu lange vergönnt. Während einer Drehung erstarrte sie abrupt zur Salzsäule. Nein, das durfte nicht wahr sein! Sollte ihr Verstand ihr wirklich einen dermaßen grausamen Streich gespielt haben? Denn: Es gab weder Epimus, Impressimus und, was noch weitaus blamabler war, in der Kunst nirgendwo Vulkanismus. Der gehörte völlig woanders hin! Deprimiert sackte sie auf den nächstbesten Stuhl. Leider war es der Schreibtischstuhl, den sie nun am liebsten gegen die Wand geklatscht hätte. Dennoch richtete sie, obwohl jetzt wieder hundemüde, mit einer recht kraftlosen Bewegung sämtliche Hefter auf der Arbeitsplatte des jetzt verwünschten Tisches penibel an. Danach rückte sie den Stuhl korrekt vor, löschte die Lampe und verschwand heulend im Bad. Sie war es leid und wollte nur noch ins Bett. Frustriert schminkte sie sich ab und beobachtete im Spiegel ihre wachsende Ähnlichkeit mit einem kalkweißen Schlossgespenst.
´Augenränder bis fast zum Bauchnabel!`
Selbst das war ihr jetzt fast einerlei. Sie streifte das schicke seidene, dunkelblaue Nachthemd über, fiel entkräftet ins Bett und schnarchte eine Sekunde später melancholisch vor sich hin.
Der Engel seufzte. In fünf Minuten schlug es Mitternacht. Hatte er die Wegbeschreibung richtig verstanden, dann war das dritte Haus in der Straße dort unter ihm sein Ziel. Aufatmend bremste er ab und setzte den Flug etwas gesitteter fort, obwohl er ja an diesem Abend bestimmt kein Strafmandat von oben befürchten musste. Pünktlich eine Minute vor Zwölf faltete er in der Orchesterstraße in Essen vor Haus Nummer 88 die Flügel ordentlich zusammen, die ramponierte Feder schamhaft unter der Flügelspitze verbergend. Nunmehr mit wieder restauriertem Outfit, schaltete er den ihn umgebenden Strahlenkranz auf ´Blitzen!`, nahm eine kerzengerade Haltung an und schellte nachdrücklich. Wie eine Sirene dröhnte die Klingel durchs Haus. Die todmüde und äußerst frustriert ins Bett gefallene Studentin schreckte aus dem extrem nötigen erholsamen Tiefschlaf auf, rieb sich wegen der gestörten Nachtruhe wütend die verquollenen Augen, krabbelte halbwach aus der Koje, griff sich den Morgenrock, wankte zur Tür und öffnete. Ein langes Gespräch aber war nicht drin. Selbst ein weibliches Menschenkind hat damit um Mitternacht diverse Schwierigkeiten! Die Ansprache des im gleißenden Himmelslicht leuchtenden Gegenübers ging zum einen Ohr rein, zum anderen wieder raus. Es war aber nicht weiter schlimm, denn Engel kennen unsere in solch ungewöhnlichen Situationen verminderte Auffassungsgabe und sehen es uns gnädig nach. Das Mädchen griff sich den mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit höchst bedeutsamen Brief. Richtig ´Danke` zu flüstern, war ihm nicht möglich.
„D ...“
Es schlurfte zurück ins Bett und rollte sich aufseufzend in die Decke. Ob es wohl seine Post noch gelesen hat? Das weiß nur der Himmel. Jetzt fragen wir uns: „Was stand eigentlich so Wichtiges in dem Brief?“ Wie gesagt: ´In der Kürze liegt die Würze!`

Es waren nur wenige Worte:
„Viel Glück für Deine Prüfung! Ich denke an Dich!!“

Deine Mama

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